Zusammenfassung
Anhand des Begriffs der Naturgeschichte werden Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem materialistischen Ansatz Adornos und dem ethischen Naturalismus von Michael Thompson herausgearbeitet und diskutiert. Naturgeschichtlich zu denken heißt für Adorno, den Vorrang des Objekts in der Vermittlung von Natur und Geschichte zu beachten. Daraus folgt aber, dass sich die Maßstäbe der Kritik nicht als quasi-natürliche Bestimmungen begreifen lassen, wofür Thompsons Naturalismus jedoch plädiert. Mit diesem lassen sich aber wiederum Argumente dafür finden, warum auch die Kritische Theorie an einem Begriff der Natur festhalten sollte, wenn es ihr um die Kritik der Gesellschaft geht.
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Notes
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Dieser Text ist selbst das Resultat vieler Gespräche über das genannte Verhältnis. Ich bin insbesondere Jan Müller zu großem Dank verpflichtet für ein fortlaufendes Gespräch über die unterschiedlichen philosophischen Erläuterungsformen des Begriffs der zweiten Natur, von dem ich in hohem Maße profitiert habe. Gordon Finlayson danke ich für Kommentare und Kritik einer späten Fassung dieses Textes, die ihm zu größerer Klarheit und Bestimmtheit verholfen haben.
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Unter den bereits genannten Beiträgen stellen die von Müller und Whyman diesbezüglich Ausnahmen dar. Whyman hat in einem anderen Beitrag (Whyman 2016) eine bemerkenswerte systematische Auseinandersetzung mit Adornos Begriff der Naturgeschichte vorgelegt, auf die ich mich im Folgenden immer wieder beziehen werde. Er verweist am Anfang seines Beitrags auf Max Penskys (Pensky 2004), Susan Buck-Morss’ (Buck-Morss 1977) und Robert Hullot-Kentors (Hullot-Kentor 2006) Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Naturgeschichte, die diesen durchgehend zwar als zentral für Adornos Werk einschätzen, ihn jedoch aufgrund seiner Vagheit als problematisch begreifen. Eine weitere systematische Auseinandersetzung, die bislang jedoch nur als unveröffentlichtes Manuskript im Internet zugänglich ist, stammt von Italo Testa (Testa o. J.). Ein weiterer Grund für die mangelnde Auseinandersetzung mit Adornos Begriff der Naturgeschichte mag in der Randständigkeit geschichtsphilosophischer Fragen in der gegenwärtigen Kritischen Theorie bestehen, auch wenn sich dies langsam wieder zu ändern beginnt, wenn man z. B. auf neuere Arbeiten von Amy Allen und Rahel Jaeggi blickt.
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Ich verwende Philippa Foots Überlegungen hier primär, um Thompsons Modell zu erläutern. Thompson versteht seine eigenen Arbeiten als Weiterführung von dem, was Foot in ihren späteren Arbeiten begonnen hat.
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Das betrifft auch die von Whyman kritisierten Susan Buck-Morss (1977), Max Pensky (2004) und Robert Hullot-Kentor (2006). Auch Whyman selbst widmet dieser Differenz zu wenig Aufmerksamkeit. Ernst genommen wird sie dagegen von Breitenstein 2013, Macdonald 2019 und Müller 2017, ebenfalls von Testa o. J. Ein Grund dafür, warum diese Differenz zu wenig beachtet wurde, mag auch darin liegen, dass die vorliegende englische Übersetzung von Hullot-Kentor diese Differenz nicht macht, sondern natürlich und naturhaft mit „natural“ übersetzt. (Vgl. Hullot-Kentor 2006, 253).
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Darauf zielt auch Freyenhagens Verständnis von Adornos praktischer Philosophie als einem negativen Aristotelismus ab. Vgl. Freyenhagen 2013, 232–254.
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Breitenstein spricht deswegen mit Bezug auf die zentralen Begriffe in Die Idee der Naturgeschichte von Reflexionsbegriffen. Vgl. Breitenstein 2013, 112.
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Adorno sagt, „daß dieses Ineinander von Natur und Geschichte das Modell ist, nach dem ein deutendes Verhalten allgemein sich in der Philosophie zu richten hat; man könnte fast sagen, daß es der Kanon dafür ist, daß Philosophie deutend sich verhält, ohne in dieser Deutung in pure Willkür zu geraten.“ (Adorno 2006, 187).
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Zu dieser Einschätzung vgl. Testa o. J., 3.
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Vgl. dazu Testa (o. J., 6 f.). Zum Verhältnis von Adorno und Heidegger bezüglich geschichtsphilosophischer Fragen und zu Adornos teilweise problematischer Lektüre von Heidegger vgl. Macdonald 2011 und 2019.
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Müllers zutreffende und oben bereits zitierte Bemerkung, dass die Begriffe Natur und Geschichte „nicht (primär) referentiell“, sondern eben reflexiv funktionieren (vgl. Müller 2017, 307), ist hier darum nur insofern zu ergänzen, als dass ‚nicht (primär) referentiell‘ eben nicht als ‚überhaupt nicht referentiell‘ gelesen werden darf, sondern vielmehr als ‚referentiell erst durch die Reflexion hindurch‘.
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Der referenzielle Gebrauch des Begriffs der Naturgeschichte bezieht sich bei Adorno auf all diejenigen Gegenstände, die geschichtsphilosophisch gedeutet werden, vor allem auf Gesellschaft und Kunst. Ich beschränke mich hier auf den Gegenstand Gesellschaft. Zu den ästhetischen Kontexten vgl. Hofstätter 2019. Adorno widmet die ersten acht Vorlesungen seiner posthum veröffentlichten Vorlesung Ästhetik (1958/59) (Adorno 2017, 9–138) dem Verhältnis von Natur und Kunst und erörtert dort umfangreich sein naturgeschichtliches Verständnis von Kunst.
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Darin besteht auch der wahre Kern des Gedankens von Marx, dass die Arbeit als Stoffwechselprozess mit der Natur schlechterdings nicht abgeschafft werden kann. Die Form, in der die Arbeit im Kapitalismus vollzogen wird – nämlich die der Lohnarbeit –, lässt sich transformieren, die Arbeit als solche kann jedoch aus Selbsterhaltungsgründen der menschlichen Gattung nicht abgeschafft werden. Vgl. Marx 1961, 57.
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Freyenhagen hat die Unerkennbarkeit des Guten unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Spätkapitalismus bei Adorno mit dem Begriff ‚epistemic negativism‘ erläutert. (Vgl. Freyenhagen 2013) Er leugnet jedoch auch nicht die bei Adorno an einigen Stellen vorhandenen positiven Einsprengsel, die sich jedoch nicht zu einem Begriff des Guten zusammenfügen lassen, sondern an die bestehende Negativität gebunden bleiben. Zu einem anderen theoretischen Umgang mit dem ‚epistemic negativism‘ bei Adorno vgl. Finlayson 2020.
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Diesen Punkt betont auch Müller, wenn er hervorhebt, dass die an das Leiden gebundene natürliche Normativität der menschlichen Lebensform unter Bedingungen kapitalistischer Gesellschaft nicht ihrerseits einen fundierenden Charakter annehmen dürfe. Vgl. Müller 2017, 311.
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Die Pointe des kategorialen Status des Lebensbegriffs liegt für Thompson darin, dass es sich dabei nicht um eine Kategorie im Sinne Kants handelt, deren Gegenstandsbezug durch andere, zumal empirische Begriffe vollzogen wird, sondern um eine Kategorie im Sinne von Aristoteles, also um einen nichtempirischen Begriff, der sich direkt – ohne weitere Vermittlung durch empirische Begriffe – auf Empirisches bezieht. Vgl. dazu Thompson 2011, 16/17.
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Testa weist auf dasselbe Problem hin, wenn er schreibt, dass Thompsons kategoriale Bestimmungen ebenso durch die individuellen Handlungen, in denen sie wirksam sind, vermittelt werden wie umgekehrt, vor allem dann, wenn es sich um soziale Praxis handelt. Vgl. Testa 2015, 79.
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Daher rührt auch Thompsons Interesse an den sogenannten Frühschriften von Marx. Vgl. Thompson 2017, 67–70.
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Hans Fink hat zwar sicherlich Recht, wenn er Adornos Ansatz aufgrund dieses antidualistischen Zugs als kompatibel mit dem ethischen Naturalismus versteht. (Vgl. Fink 2006, 216 f.) Er übersieht aber, dass Adornos Verständnis von Naturgeschichte nicht allein an der begrifflichen Vermittlung von Natur und Geschichte als solcher interessiert ist, sondern vor allem daran, die spezifische gesellschaftliche Form zu kritisieren, in der Natur und Geschichte zu einer gesellschaftlichen zweiten Natur bzw. zu einer naturhaften Einheit geronnen sind.
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In diese Richtung weisen die Überlegungen von Finlayson 2020.
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Hogh, P. (2022). Negative Dialektik der Naturgeschichte. Adorno und der ethische Naturalismus. In: Berger, M., Hogh, P. (eds) Der Vorrang des Objekts. Studien zur Kritischen Theorie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65690-7_6
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