Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt an einem Fallbeispiel aus der Geschichtswissenschaft, dass Innovationen in den Geisteswissenschaften nicht durch einen „Paradigmenwechsel“ im Zuge einer „wissenschaftlichen Revolution“ zustande kommen, sondern nur, wenn sie in einem komplexen Geflecht aus Institutionen, Diskursen, gesellschaftspolitischen Situationen sowie habitualisierten wissenschaftlichen Praktiken situiert sind. Das Fallbeispiel zeigt, dass die Etablierung der Sozialgeschichte zusätzlich erheblich davon profitierte, dass etwas Essenzielles nicht passierte: Es gab keine Kontroverse und keinen Konflikt um die Sozialgeschichte. Vielmehr wurde in einer sehr vagen Diskussion die Grenze zwischen akzeptablen und nichtakzeptablen Formen der Sozialgeschichte ausgelotet. Dadurch entstand ein Leerraum, der Sozialhistorikern die Möglichkeit bot, ihren Ansatz allmählich zu etablieren, während (und weil) sich die wissenschaftliche Konkurrenz nicht weiter dafür interessierte.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Der Band ist kurz vor der Wende fertiggestellt worden und noch in der DDR erschienen. „Humanistisch“ verweist, liest man das Vorwort und andere Beiträge, auf den Marxismus-Leninismus.
- 2.
Ich baue v. a. auf vier frühere Texte auf: Etzemüller (2001); Etzemüller (2007); Etzemüller (2013); Etzemüller (2019). – Einer der Ursprungstexte meiner eigenen Arbeit war Weber (1984). Wolfgang J. Weber hat als vielleicht erster deutscher Historiker wissenschaftssoziologische Ansätze auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft übertragen und die sozialen Bedingungen auch der historiografischen Wissensproduktion hervorgehoben. Dieser Ansatz wird, wie zahllose Historikerbiografien seitdem zeigen, nach wie vor nur sehr unvollständig rezipiert. Eine der wenigen Ausnahmen ist Raphael (1994).
- 3.
Historiker gingen seinerzeit davon aus, dass jede Erkenntnis zwar standortgebunden sei. „Objektiv“ war sie jedoch, wenn Historiker sich nicht „willkürlichen“ Vorgaben unterwarfen, z. B. einer Ideologie. Die Homologie zwischen Wissenschaft, bürgerlicher Gesellschaftsordnung und deutscher Nation ergab sich in ihren Augen dagegen aus der Empirie und bildete damit einen legitimen wissenschaftlichen Standpunkt gegen den Sozialismus; vgl. detailliert Etzemüller (2001, 296–309).
- 4.
Sehr lesenswert allerdings der Aufsatz der Germanistin Marlies Janz über die „produktive Verniemandung“ von Professorengattinnen (Gummert [sic] 1979). – Die Verniemandung ist die Gegenpraxis zur Vf.-Werdung.
Literatur
Adamski, J. (2009). Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946–1969. Klartext.
Alkemeyer, T., & Buschmann, N. (2015). Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis. In: H. Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm (S. 115–136). Transcript.
Anderle, O. F. (1958). Theoretische Geschichte. Betrachtungen zur Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft. Historische Zeitschrift, 185, 1–54.
Bachmann-Medick, D. (2009). Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (3. Aufl.). Rowohlt.
Beaufaÿs, S. (2003). Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft. Transcript.
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.). (2016). Zuviel Mainstream oder: Wie kommt das Neue in die Wissenschaft? Streitgespräche in den Wissenschaftlichen Sitzungen der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 5. Juni 2015 und am 27. November 2015. Verlag Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Brix, E. (2003). Wesen und Gestalt kreativer Milieus. In W. Berka, E. Brix & C. Smekal (Hrsg.), Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst (S. 99–115). Böhlau.
Brühl, R. (2015). Wie Wissenschaft Wissen schafft. Wissenschaftstheorie für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. UTB.
Brunner, O. (1980). Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“. In Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte (3. Aufl., urspr. 1958, S. 103–127). Vandenhoeck & Ruprecht.
Conze, W. (1952). Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 3, 648–657.
Conze, W. (1957). Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht. Westdeutscher Verlag.
Daniel, U. (2006). Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (5. Aufl.). Suhrkamp.
Engler, S. (2001). „In Einsamkeit und Freiheit“? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur. Halem.
Etzemüller, T. (2001). Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft. De Gruyter.
Etzemüller, T. (2007). „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Zu den theoretischen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Arbeit. In: J. Eckel & T. Etzemüller (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft (S. 27–68). Wallstein.
Etzemüller, T. (2013). Der „Vf.“ als biographisches Paradox. Wie wird man zum „Wissenschaftler“ und (wie) lässt sich das beobachten? In T. Alkemeyer, G. Budde & D. Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (S. 75–95). Transcript.
Etzemüller, T. (2019). „It’s the performance, stupid“. Performanz → Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft. In T. Etzemüller (Hrsg.), Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft (S. 9–43). Transcript.
Fischer, H. R. (Hrsg.). (2013). Wie kommt Neues in die Welt? Phantasie, Intuition und der Ursprung von Kreativität. Velbrück.
Fleck, L. (1993). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (2. Aufl., urspr. 1935). Suhrkamp.
Forgan, S. (2003). Eine angemessene Häuslichkeit? Frauen und die Architektur der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In T. Wobbe (Hrsg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (S. 137–157). Transcript.
Foucault, M. (1991). Die Ordnung des Diskurses. Fischer.
Foucault, M. (1992). Archäologie des Wissens (5. Aufl.). Suhrkamp.
Freyer, H. (1930). Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Teubner.
Freyer, H. (1948). Weltgeschichte Europas (2 Bde). Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung.
Freyer, H. (1955). Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Deutsche Verlagsanstalt.
Gelhard, A., Alkemeyer, T. & Ricken, N. (Hrsg.). (2013). Techniken der Subjektivierung. Fink.
Gummert, M. (1979). Rede einer selbstbewußten Professorenfrau. Ein Dokument. Kursbuch, 58, 85–100.
Haar, I., & Fahlbusch, M. (Hrsg.). (2005). German scholars and ethnic cleansing, 1919–1945. Berghahn.
Hnilica, S. (2018). Der Glaube an das Grosse [sic] in der Architektur der Moderne. Grossstrukturen der 1960er und 1970er Jahre. Park Books.
Jantke, C. (1953). Bergmann und Zeche. Die sozialen Arbeitsverhältnisse einer Schachtanlage des nördlichen Ruhrgebiets in der Sicht der Bergleute. Mohr Siebeck.
Kantorowicz, E. (1957). The King’s two bodies. A study in medieval political theology. Princeton University Press.
Koelbl, H. (2020). Faszination Wissenschaft. 60 Begegnungen mit wegweisenden Forschern unserer Zeit. Knesebeck.
Kuhn, T. S. (1989). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (10. Aufl.). Suhrkamp.
Mackensen, R., et. al. (Bearb.). (1959). Daseinsformen der Großstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt. Mohr.
Oberkrome, W. (1993). Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945. Vandenhoeck & Ruprecht.
Parthey, H. (Hrsg.). (1990a). Das Neue. Seine Entstehung und Aufnahme in Natur und Gesellschaft. Akademie.
Parthey, H. (1990b). Entdeckung, Erfindung und Innovation. In H. Parthey (Hrsg.), Das Neue. Seine Entstehung und Aufnahme in Natur und Gesellschaft (S. 97–148). Akademie.
Pitz, E. (1964). Geschichtliche Strukturen. Betrachtungen zur angeblichen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft. Historische Zeitschrift, 198, 265–305.
Raphael, L. (1994). Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980. Klett.
Ritter, G. (1950). Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12. September 1949. Historische Zeitschrift, 170, 1–22.
Ritter, G. (1951). Zum Begriff der „Kulturgeschichte“. Historische Zeitschrift, 171, 293–302.
Ritter, G. (1955). Leistungen, Probleme und Aufgaben der internationalen Geschichtsschreibung zur neueren Geschichte. In Relazioni del X. Congresso Internazionale degli Scienze Storiche (Bd. VI, S. 169–330). Sansoni.
Ritter, G. (1966). Wissenschaftliche Historie einst und jetzt. Betrachtungen und Erinnerungen. Historische Zeitschrift, 202, 574–602.
Rüsen, J. (1983). Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht.
Rüsen, J. (1986). Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Vandenhoeck & Ruprecht.
Rüsen, J. (1989). Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Vandenhoeck & Ruprecht.
Schregel, S. (2016). Interdisziplinarität im Entwurf. Zur Geschichte einer Denkform des Erkennens in der Bundesrepublik (1955–1975). NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 24, 1–37.
Schülein, J. A., & Reitze, S. (2012). Wissenschaftstheorie für Einsteiger (3. Aufl.). WUV.
Seiffert, H. (1983/1985). Einführung in die Wissenschaftstheorie (3 Bde). Beck.
Wagner, F. (1961). Begegnungen von Geschichte und Soziologie bei der Deutung der Gegenwart. Historische Zeitschrift, 192, 607–624.
Weber, W. (1984). Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970. Lang.
Weingart, P. (Hrsg.). (1973/1974). Wissenschaftssoziologie (2 Bde.). Suhrkamp.
Wittram, R. (1958). Das Faktum und der Mensch. Bemerkungen zu einigen Grundfragen des Geschichtsinteresses. Historische Zeitschrift, 185, 55–87.
Wolgast, E. (1992). Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert. In J. Miethke (Hrsg.), Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar. 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde (S. 127–157). Springer.
Zill, R. (2020). Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. Suhrkamp.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Etzemüller, T. (2023). Revolution oder Verschiebung? Das Neue als inszeniert Nicht-Neues. Ein Fallbeispiel aus wissenschaftssoziologischer Perspektive. In: Jaeger, F., Voßkamp, S. (eds) Wie kommt das Neue in die Welt?. Abhandlungen zur Medien- und Kulturwissenschaft. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65196-4_12
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-65196-4_12
Published:
Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-65195-7
Online ISBN: 978-3-662-65196-4
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)