Zusammenfassung
Eine Kernidee romantischen Denkens besteht darin, die Welt durchgängig als zeichenhaft zu begreifen. Gegenstände und Phänomene bilden sämtlich eine Geheimschrift, die zu entziffern der Mensch verlernt hat. Indem dieser Gedanke allerdings absolut gesetzt wird, ist davon auch das intime Medium der Stimme betroffen. Der Beitrag zeigt, inwiefern mit der romantischen Zeichentheorie auch in der eigenen Stimme ein verschlüsselter Bedeutungsanteil vermutet und damit die eigene Stimme fremd wird.
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Notes
- 1.
Der vorliegende Beitrag verdankt Bettine Menkes Studie zur Prosopopoiia entscheidende Anregungen. Das Konzept einer ‚fremden eigenen Stimme‘ findet sich dort in identischer Formulierung (vgl. Menke 2000, 288). Der konsequent dekonstruktivistische Ansatz Menkes beschreibt allerdings Echos und sich in die eigene Stimme einschreibende fremde Bedeutung als Residuum einer Defiguration: In der fremden eigenen Stimme wird das Künstliche, Verstellende deutlich, das die Voraussetzung für die Rezeption von Text überhaupt ist – die Annahme eines Ursprungs in Form eines sich äußernden Subjekts. „Eine ‚Stimme geben‘ ist Modell der Lektüre, die ein ‚Gesicht‘ verleiht; ‚prosopon-poein‘ ‚sagt‘ aber als rhetorische Operation des Verleihens einer persona zugleich auch, daß ein solches ‚Gesicht‘ des Sprechens ursprünglich fehlte oder nie da war; sie ist Katachrese des Gesichts.“ (Menke 2000, 11, Hervorh. i. Orig.) Von dieser Warte aus geht es – im Gegensatz zu den hier angestellten Überlegungen – weniger um Figurationen eines Allzusammenhangs in der erzählten Welt, sondern vor allem um die latente Paradoxie im Grunde jeder romantischen Lektürepraxis: „Die Figur der Stimme ist eine Figur, die in ihrem Effekt, der ‚Stimme‘ heißt, ihre rhetorische Verfaßtheit und damit ihre Stummheit verstellt.“ (Ebd., 150.).
- 2.
Platens Wirken fällt in eine Phase des Literatursystems Romantik, in der „tradierte literarische Verfahrensweisen“ zwar noch erkennbar sind, „jedoch überzogen oder herausgefordert von Neuem.“ (Schönert 2017, 31, Fußnote 21) Diesen Systemzustand beschreibt Jörg Schönert als „Reduktionsphase“ (ebd.) und ordnet Platen dem Teilsystem „werte- und stilkonservative Literatur (von 1825 bis 1860)“ (ebd., 35) zu, das dem Spannungsverhältnis von Spätromanik und Vormärz insofern entgeht, als es sowohl „durch den erprobenden (auch komisch-skeptischen) Erhalt tradierter ethischer und ästhetischer Muster“ gekennzeichnet ist als auch durch frührealistische Elemente (ebd., 35 f.).
- 3.
Detlef Kremer stellt dies für den romantischen Bezug zur Kabbala insgesamt fest: „Disparate Bereiche der Natur oder des gesamten Universums geben ihre Äquivalenzen über eine sprachliche Signatur preis, die alles mit allem vergleichbar erscheinen lässt“ (Kremer 1999, 203). Der romantische Text und das, wovon er erzählt, treten damit bei aller Reflexion auf Materialität zugleich als Erweiterung und als Teil der Wirklichkeit auf (vgl. Schulte 1994; Kilcher 1998).
- 4.
- 5.
Das hier aufgerufene Bild des Infektiösen verortet den Text ausdrücklich in spätromantischer und damit antiklassizistischer Tradition (im Gegensatz zur deutliche Schnittmengen mit der Weimarer Klassik aufweisenden Frühromantik, vgl. Pikulik 22000), denn mit den ansteckenden Schriftzeichen scheitert ein Denkmuster, das Cornelia Zumbusch im Zentrum des klassizistischen Programms verortet: Immunität (Zumbusch 2012).
- 6.
Das prominente Athenäums-Fragment 116 bietet mit der Kerndefinition einer romantischen Dichtung als „progressive[r] Universalpoesie“ (Schlegel 2011, 32 f.) den theoretischen Anteil, der (u. a.) in der rastlosen Wanderschaft unerfüllter Sehnsucht zum konkreten Motiv wird. Wenn man das romantische Erzählen wie beschrieben als Erprobung hochkomplexer und abstrakter Theorien in anschaulichen Szenen und Entwürfen von Lebensführung beschreibt, sind die vielen Figuren auf Wanderschaft genau das: ein Voranschreiten (‚progressiv‘, bei Schlegel im Wortsinne gemeint) im gleichzeitigen Horizont einer allumfassenden Gesamtheit. Eine Poesie aber, die zugleich allumfassend und dennoch veränderlich, sich erweiternd und voranschreitend sein soll, gerät in einen Widerspruch und wird zur rastlosen Suche nach einem unerreichbaren, weil widersprüchlich angelegten Ziel.
- 7.
Der Begriff der ‚Sem-Ontologie‘ wird im Anschluss an Winfried Menninghausʼ (1987) Beobachtungen zur frühromantischen Kunsttheorie verwendet (zur Fortschreibung über die Romantik hinaus vgl. Hörisch 1992 sowie Grizelj 2018); gemeint sind verschiedene Spielarten einer Überführung von Zeichen in materielle Präsenz respektive die Wechselwirkung von semiotischer und ontologischer Wirklichkeit.
- 8.
Dabei ist die Frage „Ist’s nur meine Stimme?“ durchaus ambig in einer Weise, die der Verbindung von Sprache, Zeichen und Realität zuspielt. Denn je nach Betonung werden verschiedene dieser Bezüge betont. „Ist’s nur meine Stimme?“ artikuliert den Zweifel, im eigenen Sprechen nicht zugleich etwas Fremdes zu transportieren. „Ist’s nur meine Stimme?“ lenkt wie die Variante „Ist’s nur meine Stimme?“ ebenfalls den Blick auf einen geheimnisvollen Überschuss, ggf. also Phänomene, die sich aus der Wirkmacht der Sprache und ihrer Effekte verselbstständigter Bedeutung ergeben.
- 9.
Literatur
Primärliteratur
Brentano, Clemens: Von den Mauern Widerklang. In: Wolfgang Frühwald/Bernhard Gajek/Friedhelm Kemp (Hg.): Clemens Brentano. Werke. Erster Band. Gedichte. Romanzen vom Rosenkranz. München: Hanser 1968, 42
Chladni, Ernst Florens Friedrich: Entdeckungen über die Theorie des Klanges. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1787
Eichendorff, Joseph von: Das Marmorbild [1819]. In: Wolfgang Frühwald/Brigitte Schillbach (Hg.): Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Band 2. Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 383‒428 (Bibliothek deutscher Klassiker 8)
Eichendorff, Joseph von: Das Schloß Dürande [1837]. In: Brigitte Schillbach/Hartwig Schultz (Hg.): Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Band 3. Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen II. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, 421‒465 (Bibliothek deutscher Klassiker 100)
Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine. Eine Erzählung [1811]. Stuttgart: Reclam 2001 (Universal-Bibliothek 491)
Hoffmann, E. T. A.: Des Vetters Eckfenster. In: Gerhard Allroggen/Friedhelm Auhuber/Hartmut Mangold/Jörg Petzel/Hartmut Steinecke (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Späte Prosa. Briefe. Tagebücher und Aufzeichnungen. Juristische Schriften. Werke 1814‒1822. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2004, 468‒497 (Bibliothek deutscher Klassiker 185)
Hoffmann, E. T. A.: Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. In: Hartmut Steinecke (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Text und Kommentar. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006, 229‒321
Novalis: Die Lehrlinge zu Sais [1802]. In: Paul Kluckhohn/Richard Samuel (Hg.): Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Erster Band. Das dichterische Werk. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, 79‒109
Platen, August Graf von: Gedichte. Stuttgart/Tübingen: Cotta 1828
Ritter, Johann Wilhelm: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Zweytes Bändchen. Heidelberg: Mohr und Zimmer 1810
Schlegel, Dorothea: Florentin [1801]. Ein Roman. Hg. von Wolfgang Nehring. Stuttgart: Reclam 1993 (Universal-Bibliothek 8707)
Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente. In: Friedrich Strack/Martina Eicheldinger (Hg.): Fragmente der Frühromantik. Berlin/Boston 2011, 22‒83
Schmidt, Georg Philipp: Lieder [1821]. Altona: Hammerich 31847
Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert [1797]. In: Manfred Frank (Hg.): Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Band 6. Phantasus. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 126‒146 (Bibliothek deutscher Klassiker 2)
Tieck, Ludwig: Der Runenberg [1804]. In Manfred Frank (Hg.): Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Band 6. Phantasus. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 184‒208 (Bibliothek deutscher Klassiker 2)
Sekundärliteratur
Alewyn, Richard: Eine Landschaft Eichendorffs. In: Paul Stöcklein (Hg.): Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Darmstadt 1966, 19‒43
Begemann, Christian: Eros und Gewissen. Literarische Psychologie in Ludwig Tiecks Erzählung Der getreue Eckart und der Tannenhäuser. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990) 2, 89‒145
Bilda, Thomas: Figurationen des ‚ganzen Menschen‘ in der erzählenden Literatur der Moderne. Jean Paul/Theodor Storm/Elias Canetti. Würzburg 2014
Böhme, Hartmut: Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988, 67‒144
Fröhler, Birgit: Seelenspiegel und Schatten-Ich. Doppelgängermotiv und Anthropologie in der Literatur der deutschen Romantik. Marburg 2004
Grizelj, Mario: Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von Literatur. München 2018
Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt/M. 1992
Kilcher, Andreas: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart/Weimar 1998
Kremer, Detlef: Prosa der Romantik. Stuttgart 1996
Kremer, Detlef: Kabbalistische Signaturen. Sprachmagie als Brennpunkt romantischer Imagination bei E. T. A. Hoffmann und Achim von Arnim. In: Eveline Goodman-Thau/Gert Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Tübingen 1999, 197‒221
Lange, Carsten: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg 2007
Lehnert, Gertrud: Verlorene Räume. Zum Wandel eines Wahrnehmungsparadigmas in der Romantik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), 722‒734
Meischein, Burkhard: Zeichen-Deutungen. Walter Benjamin und Johann Wilhelm Ritter. In: Robert Klein (Hg.): Klang und Musik bei Walter Benjamin. München 2013, 74‒85
Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000
Menke, Bettine: Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne. In: Eckhard Schumacher/Gabriele Schabacher/Stefan Andriopoulus (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln 2001, 100‒120
Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt/M. 1987
Menninghaus, Winfried: Die frühromantische Theorie von Zeichen und Metapher. In: The German Quarterly 62 (1989) 1, 48‒58
Pape, Walter (Hg.): Das „Wunderhorn“ und die Heidelberger Romantik. Performanz, Mündlichkeit, Schriftlichkeit. Tübingen 2005
Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung [1992]. München 22000
Schönert, Jörg: 1815‒1848 als eine konturlose Epoche oder als Zeitraum mit Konturen aus drei Epochen? In: Rüdiger Nutt-Kofoth (Hg.): Literaturgeschichte als Problemfall. Zum literarhistorischen Ort Annette von Droste-Hülshoffs und der ‚biedermeierlichen‘ Autoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hannover 2017, 27‒40
Schulte, Christoph: Kabbala in der deutschen Romantik. Zur Einleitung. In: Eveline Goodman-Thau/Gerd Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik. Tübingen 1994, 1‒19
Seidlin, Oskar: Eichendorffs symbolische Landschaft. In: Paul Stöcklein (Hg.): Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Darmstadt 1966, 218‒241
Titzmann, Michael: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770‒1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen. In: Ders.: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Berlin/Boston 2012, 173‒193
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Whorf, Benjamin Lee: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie [engl. 1956]. Reinbek bei Hamburg 252008
Ziolkowski, Theodore: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart 1992
Zumbusch, Cornelia: Der Raum der Seele. Topographien des Unbewussten in Joseph von Eichendorffs Eine Meerfahrt. In: Inka Mülder-Bach/Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik. Würzburg 2007, 197‒216
Zumbusch, Cornelia: Die Immunität der Klassik. Frankfurt/M. 2012
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Tetzlaff, S. (2022). Fremde eigene Stimme. Über einen körperlichen Medieneffekt der Romantik. In: Boyken, T., Stemmann, A. (eds) Von Mund- und Handwerk. Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien, vol 11. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65017-2_8
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