Zusammenfassung
Geschichte wird immer durch eine Vorstellung des zeitlichen Wandels hervorgebracht, die die Erfahrung der Vergangenheit, die gegenwärtige Lebenspraxis und die Zukunftserwartung in die Einheit einer Zeit als sinnträchtige und bedeutungsvolle Ordnung des menschlichen Lebens integriert. Krisen der historischen Kontinuität werden entweder mit kulturell vorgegebenen Möglichkeiten des Geschichtsbewusstseins überwunden (normale Krise) oder sie erfordern neue Paradigmen der Geschichtsaneignung (kritische Krise). Anders katastrophale Krisen wie das soziale Trauma: Sie stellen die Möglichkeit einer historischen Sinnerzeugung grundsätzlich in Frage und prägen den historischen Zügen der zeitlichen Ordnung Störungen und Brüche auf. Im Umgang mit traumatischen Krisen entwickeln Gesellschaften Strategien der Enttraumatisierung, die den aus der Psychoanalyse bekannten Abwehrmechanismen ähneln. Durch Anonymisierung, Kategorisierung, Normalisierung, Moralisierung und Teleologisierung soll die traumatische Vergangenheit in der Gegenwart erträglich gemacht werden. Selbst geschichtstheoretische Reflexion kann zu einem Abstraktmachen der Erfahrung gebraucht werden. Geschichtswissenschaft ist ebenfalls eine kulturelle Praxis der Enttraumatisierung, doch bleibt ihr die notwendige Funktion einer tatsachenbasierten, aufklärenden Kritik der Historisierung des Traumas.
Der folgende Text stellt eine stark veränderte Fassung einer älteren Überlegung zum deutschen Umgang mit dem Holocaust dar (Rüsen, 2001b).
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Literatur
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Rüsen, J. (2022). Die Wunden der Geschichte – Über den historischen Umgang mit traumatischen Erfahrungen. In: Hamburger, A., Hancheva, C., Volkan, V. (eds) Soziales Trauma. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64997-8_5
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