Zusammenfassung
Angesichts der ökologischen Krise argumentiert der Aufsatz für einen Bewusstseinswandel, der den ökologischen Umbau nicht nur politisch motivieren, sondern auch in der gesellschaftlichen Umsetzung begleiten muss, soll der Umbau nachhaltig sein. Dafür bedarf es allerdings einer Umorientierung auch im Bildungsverständnis, das hier wegen seiner gegenwärtigen Tendenz zur Selbstfixierung kritisch betrachtet wird. Eine Alternative bieten die Gebrüder Humboldt, in deren beider Werk eine Bildung der Individualität weniger mit Selbstbespiegelung und Abgrenzung vom Anderen als mit einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Fremden einhergeht. Unter dieses „Fremde“ zählt an zentraler Stelle auch die Natur, allerdings wurde die Humboldt’sche Naturphilosophie selten einer politisch-philosophischen Lektüre unterzogen. Eine solche wird hier bezogen auf die Fragestellung von „green citizens“. Dieses überaus zeitgemäße Naturdenken vermag zahlreiche Fallstricke zu umgehen, denen die Rede von Natur und Ökologie in Zeiten des Anthropozäns ausgesetzt ist. So zeichnet sich eine Konzeption ab, in der ökologisches Bewusstsein, Selbstbildung und Freiheit Hand in Hand gehen.
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Notes
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Am 26.5.2021 hat ein niederländisches Gericht die Firma Shell verpflichtet, seine CO2 Emissionen bis 2030 um 45 % zu senken. Ende April hatte das Deutsche Bundesverfassungsgesetz das „Klimaschutzgesetz“ als verfassungswidrig erklärt, weil es wichtige Veränderungen zu lange verschoben hatte.
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Online nachzulesen unter: https://www.penguin.co.uk/articles/2019/sep/naomi-klein-on-the-green-new-deal-climate-change.html.
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„Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf der Mensch einer Welt außer sich“; es gilt daher, „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und […] mit sich zu verbinden“ (Humboldt 2008a [1793], S. 849 f.).
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„Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen“ (Goethe: Epirrhema, nach https://www.textlog.de/18635.html).
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„Je reichhaltiger das Vokabular ist, auf das wir zurückgreifen können, um etwas als etwas zu bezeichnen, umso nuancierter ist das Erleben, und umso besser sind schließlich auch die Möglichkeiten, über dieses Erleben miteinander ins Gespräch zu kommen“. Das Studium fremder Sprachen ist ebenfalls selbstbildend, indem es „den eigenen Weltzugang erst als solchen erkennbar werden lässt“ (Rieger-Ladich 2019, S. 56 f.) Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt (Wittgenstein).
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„Natur hat weder Kern Noch Schale, Alles ist sie mit einem Male“ (Goethe, Dem Physiker, nach https://www.textlog.de/18655.html).
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Das Missverständnis, als meine die Rede vom ökologischen Gleichgewicht etwas Statisches, Unwandelbares (ausgedrückt immer wieder bei Latour und in der Folge etwa bei Horn und Bergthaller 2019, S. 66) trifft gerade nicht das dynamische Naturverständnis Alexander von Humboldts, der vom „freyen Spiel dynamischer Kräfte“ sprach (1807, hier zitiert nach Falk 2018) und die Idee einer Naturgeschichte vorwegnahm.
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Alexander von Humboldt: Kosmos I.3 (1844, nach https://www.projekt-gutenberg.org/humbolda/kosmos/kosmos.html). Er greift hier zurück auf frühere Deutungen von Natur als einem Ausdruck von Freiheit, es gibt dort freies Spiel der Kräfte, einen „freien, kraftvollen Pflanzenwuchs“ (1989, S. 34) usw.
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Wilhelm von Humboldt schreibt am 16.8.1791 (kurz nach Hochzeit und Rückzug) an Georg Forster, „daß nichts auf Erden so wichtig ist, als die höchste Kraft und die vielseitigste Bildung der Individuen, und daß daher der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst“ (nach Geier 2009, S. 146 f.).
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Humboldt hatte so etwas wie eine Gleichheit in Bildungsdingen durchaus in Sinn: „Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden“, schreibt er in „Der Königsberger und der Litauische Schulplan“ (1809), nach: https://www.germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-7.
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„Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kräfte größere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch, vorzüglich um durch grössere Mannigaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichthum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen“ (W. v. Humboldt 2002, S. 10 f.). An einer anderen Stelle hieß es etwas früher: „Durch Verbindungen also … muß einer den Reichtum des anderen sich zu eigen machen“ (W. v. Humboldt 2002, S. 558).
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Diesen Gedanken von Humboldt zitiert noch Rawls in der „Theorie der Gerechtigkeit“ (1975, S. 569) (s. o., Fn. 3).
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Diese Umwertung fällt natürlich nicht vom Himmel; Leibniz und Herder z. B. wirken hier nach.
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„Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben“ (MEW 40, S. 516).
Literatur
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Henning, C. (2022). Natur und Bildung in der Klimakrise: Die Gebrüder Humboldt reloaded. In: Drerup, J., Felder, F., Magyar-Haas, V., Schweiger, G. (eds) Creating Green Citizens. Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63376-2_2
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