Zusammenfassung
Das gemeinsam mit dem Komponisten Enno Poppe geschaffene Musiktheaterwerk IQ (2011/2012) zeigt exemplarisch, wie weit Marcel Beyers Arbeit als Librettist über manche Vorstellungen und Usancen des Opernkomponierens hinausführt. Das hat zunächst mit den Aktivitäten der Auswahl, Akzentuierung und Verdichtung des Themas zu tun. Es erweist sich zudem daran, dass hier ungewöhnliche Strategien zum Zuge kommen, mit denen Sinn-Momente herauskristallisiert oder auch verschattet werden, die sodann zu einer Basis für eine ihrerseits mit vielen Ambivalenzen ausgestatteten Musiksprache werden, an deren Gestaltung sich Beyer punktuell sogar beteiligte. Aus alledem resultiert ein so spielerisch wie existenziell grundiertes Musiktheaterwerk, dessen inhaltlicher Kern, die Frage nach Konditionierungen und Intelligenz-Messungen, auf musikalischer wie textlicher Ebene zum Stimulans höchst origineller und unerwarteter Gestaltungen wird. Diese können als Gegenkräfte zu jederart Normierung interpretiert werden.
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Notes
- 1.
Zu Arbeit Nahrung Wohnung (sowie zu einzelnen weiteren, im Vorliegenden nicht berücksichtigten Aspekten von IQ) vgl. Hiekel (2017).
- 2.
Vgl. Beyer (2016).
- 3.
Vgl. Beyer (2015).
- 4.
Vgl. den Abdruck im Anhang dieses Tagungsbandes.
- 5.
Entsprechendes gilt für einen vierten nützlichen Quellenbereich dieses Beitrags: die immer wieder geführten Gespräche des Verf. mit Marcel Beyer, für die ihm herzlich zu danken ist.
- 6.
Vgl. zu diesem Stück insgesamt Zenck (2015).
- 7.
- 8.
In einer E-Mail an den Verf. vom 18. Mai 2020 schrieb Beyer zu dieser These: „Struktur ist aussagerelevant: genau! Das habe ja nun ich wiederum aus der Musik gelernt. OK – oder aus der bildenden Kunst.“
- 9.
Vgl. hierzu Hiekel (2009).
- 10.
Das Thema war inspiriert durch eine Idee, die die Frau von Enno Poppe – die Literaturwissenschaftlerin Safia Azzouni – äußerte.
- 11.
Vgl. hierzu Hiekel (2017). Messbarkeit ist für Poppe, der oft mit Algorithmen operiert, immer wieder ein Faktor beim Komponieren, gegen den die expressive Seite gewissermaßen aufbegehrt – darin ist er unverkennbar ein Nachfolger von manchen Konzepten serieller Musik.
- 12.
Dies berichtete Poppe im Gespräch mit dem Verf. am 26. Oktober 2016 in Berlin. Beyers Kompetenz in Musikfragen ist ja auch anhand seiner zahlreichen Artikel in der Musikzeitschrift Spex dokumentiert. Vgl. hierzu den Beitrag von Frieder von Ammon im vorliegenden Band.
- 13.
Ausnahmen bestätigen die Regel: Kurz vor der Uraufführung erkrankte gerade die eben genannte Sängerin.
- 14.
Vgl. Beyer (2017, S. 199ff.).
- 15.
Hierzu heißt es im Vorspann der Partitur: „Die Gitarren werden auf unterschiedliche A’s eingestimmt. Da sie erst am Ende der Oper gebraucht werden, kann es sein, dass nicht alle Gitarren ihre Stimmung halten. Es ist dennoch davon abzuraten, die Instrumente auf der Bühne vor dem letzten Stück zu stimmen. Man soll eher die mangelnde Reinheit akzeptieren. Diese Gitarrenpartien sind bewusst für Musiker geschrieben, die die Instrumente nicht beherrschen. Es soll aber immer äußerst akkurat gespielt werden.“
- 16.
Vgl. die Ähnlichkeit mit Passagen aus Das blindgeweinte Jahrhundert, wo Beyer zum einen auf Loyolas Tränentagebuch eingeht (Beyer 2017, S. 114ff.), zum anderen ebenfalls Tränen und Schweiß miteinander verbindet (ebd., S. 189ff.). Der Verf. dankt Sven Lüder für diesen Hinweis.
- 17.
Den Ausdruck „MEGABLUT“ hat Beyer selbst wie folgt in erhellender Weise charakterisiert: „Kunstwort, Assoziation: unendliche körperliche Energie“. Vgl. hierzu Hiekel (2017).
- 18.
Marcel Beyer im Gespräch mit dem Verf. am 28. Oktober 2016 in Dresden.
- 19.
Vgl. zu diesem wichtigen Teilaspekt von Poppes Komponieren: Mainka (2017, S. 28–51).
- 20.
Im Eintrag vom 18. Dezember 2010 heißt es: „Zweites Telefon mit Enno, anderthalb Stunden später: Achtziger: Ataris (Töne, Bildschirm […])“.
- 21.
Vgl. Gould (2016); zur kritischen Bezugnahme auf den biologischen Determinismus vgl. S. 14f. Ferner werden in Beyers Notizensammlung auch das von dem amerikanischen Psychologen Henry Herbert Goddard stammende, auf Geisteskrankheiten bezogene Buch The Kallikak Family (New York 1912) (das von Gould kritisch reflektiert wird) sowie der von Ernst Fay herausgegebene Sammelband Tests unter der Lupe 4. Aktuelle psychologische Testverfahren – kritisch betrachtet (Göttingen 2003) erwähnt. Ausdrücklich hervorgehoben und punktuell diskutiert wird zudem folgender Beitrag: Watson, John B.: The Unconscious of the Behaviorist. – In: Ethel S. Dummer (Hg.), The Unconscious: A Symposium, New York 1929, S. 91–113.
- 22.
Vgl. hierzu den Beitrag von Monika Schmitz-Emans im vorliegenden Band.
- 23.
Vgl. Gould (2016, S. 157–170).
- 24.
Die schon zitierten Überlegungen Beyers, die dieser mit Blick auf das Textverstehen in Karl May, Raum der Wahrheit formulierte, erhalten ein etwas schlichteres, aber trotzdem vergleichbares Beispiel: „Wenn das Publikum […] das gesungene Wort ‚Kurschatten‘ als ‚Chorschatten‘ hören sollte – mir ist es recht! Sehr recht sogar.“ Beyer (2015, S. 154).
- 25.
Ein gewisses Manko war allerdings nun die Kürzung einzelner Arienmomente, also wichtiger „Gegenkräfte“ zur Seite des Messens, ein anderes die schon angedeutete, etwas zu aufdringliche visuelle Überwölbung des Schlusses mithilfe von Bildern berühmter Persönlichkeiten.
- 26.
Vgl. hierzu auch Hiekel (2017).
Literatur
Assmann, Aleida: Geschichte aus der Vogelperspektive. Die Erfindung von Vergangenheit in Marcel Beyers Kaltenburg. – In: Christian Klein (Hg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk. Stuttgart 2018, 157–169.
Beyer, Marcel: Manos Tsangaris als Erzähler. – In: Ulrich Tadday (Hg.): Musik-Konzepte (Neue Folge): Sonderband Manos Tsangaris (XII/2015). München 2015, 146–159.
Beyer, Marcel/Poppe, Enno: „Die Töne als Material“. Marcel Beyer im Gespräch mit dem Komponisten Enno Poppe – In: Torsten Hahn/Christof Hamann (Hg.): TransLit 2015: Marcel Beyer. Köln 2016, 82–111.
Beyer, Marcel: Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Berlin 2017.
Eggers, Michael: Liebhaberei. Marcel Beyers literarische Ornithologie. – In: Christof Hamann (Hg.): Marcel Beyer. Text + Kritik 218/219. München 2018, 148–158.
Gould, Stephen Jay: Der falsch vermessene Mensch [1981]. Übers. von Günter Seib. Frankfurt a. M. 62016.
Hiekel, Jörn Peter: Erhellende Passagen. Zum Stationentheater von Manos Tsangaris. – In: Musik & Ästhetik 13 (Oktober 2009), 48–60.
Hiekel, Jörn Peter: Beschränkung und Entfaltung. Zu den Musiktheaterwerken Arbeit Nahrung Wohnung und IQ von Enno Poppe und Marcel Beyer. – In: Ulrich Tadday (Hg.): Musik-Konzepte (Neue Folge), Bd. 175: Enno Poppe. München 2017, 73–96.
Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Hg. von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg im Breisgau 41999.
Mainka, Jörg: Hin und weg von der „motivischen Arbeit“. Zu einigen Gestaltungsverfahren in Enno Poppes Ensemblekomposition Speicher“. – In: Ulrich Tadday (Hg.): Musik-Konzepte (Neue Folge), Bd. 175: Enno Poppe. München 2017, 28–51.
Poppe, Enno: [Kommentar zu] IQ. Testbatterie in acht Akten. Programmheft der Uraufführung bei den Schwetzinger Festspielen 2012, 10.
Zenck, Martin: – „Die Rettung Wagners durch Karl May“ – oder durch Manos Tsangaris? Über das Musiktheaterstück Karl May, Raum der Wahrheit. – In: Ulrich Tadday (Hg.): Musik-Konzepte (Neue Folge): Sonderband Manos Tsangaris (XII/2015). München 2015, 160–183.
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Hiekel, J.P. (2021). Gegenkräfte jenseits des Messbaren. Marcel Beyers Libretto zum Musiktheaterwerk IQ und die Zusammenarbeit mit Enno Poppe. In: Lüder, S., Stašková, A. (eds) Klang – Ton – Wort: akustische Dimensionen im Schaffen Marcel Beyers. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62856-0_11
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