Dieses Kapitel behandelt den Zusammenhang zwischen Emotionsregulation (ER) und psychischen Störungen. Die Basis bildet ein Überblick zu klinischen Modellen der ER. Nachfolgend werden die Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche zu spezifischen ER-defiziten im Rahmen psychischer Störungen vorgestellt. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Betrachtung der ER als potenziell verfahrensübergreifender Behandlungsfokus in Psychotherapien.

1 Einleitung

Emotionen und der Umgang mit Emotionen haben eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung psychopathologischer Symptome (z. B. Barnow 2012; Barlow et al. 2011; Berking et al. 2008; Benecke 2014; Benecke und Brauner 2017). So bestätigt die Metaanalyse von Aldao et al. (2010) einen positiven Zusammenhang von mutmaßlich maladaptiven ER-Strategien, wie Rumination, Suppression oder Vermeidung, mit psychischen Störungsbildern (Angststörungen, Depression, Essstörungen und Substanzabhängigkeit), und ein aktuelles Review zeigt, dass Veränderungen der ER-Strategien im Laufe von Psychotherapien mit Behandlungserfolg in Verbindung stehen (Sloan et al. 2017).

Folgend soll versucht werden, die Rolle der ER im Rahmen psychischer Störungen und für die Psychotherapie besser zu verstehen und zu systematisieren. Wir beginnen mit einem Überblick zu klinischen ER-Modellen, auf deren Basis spezifische ER-Defizite im Rahmen psychischer Störungen differenziert betrachtet werden sollen. Abschließend soll ER als (potenziell verfahrensübergreifender) Behandlungsfokus in Psychotherapien betrachtet werden.

2 Motivation, Emotionen und Emotionsregulation in klinischen Modellen

Innerhalb der klinischen Theorien wird ER üblicherweise nicht isoliert betrachtet, sondern als in komplexe Prozesse eingebettet verstanden. Insbesondere wird die Verbindung zu basalen Motivationssystemen und damit verknüpften Emotionen betont. So kann modellhaft mindestens von einem vierschrittigen Prozess ausgegangen werden:

Aktivierung eines Motivationssystems → Aktivierung von damit verknüpften Affekten → Aktivierung von ER-prozessen → Erleben und Verhalten (Benecke und Brauner 2017).

2.1 Motivation und Emotion in klinischen Theorien

Im Zentrum etlicher moderner klinischer Theorien stehen basale Motivationssysteme bzw. Grundbedürfnisse (z. B. Grawe 2004; Caspar 2008; Sachse 2004; Young et al. 2005; Arbeitskreis OPD 2006). Bisher existiert allerdings kein Konsens darüber, welche Motive/Bedürfnisse zu den Basismotiven oder Grundbedürfnissen gezählt werden sollen, weder in den klinischen noch in den allgemeinpsychologischen Theorien (vgl. Westen 1997; Rheinberg und Vollmeyer 2012).

Häufig werden Anleihen bei ethologisch orientierten (z. B. Bischof 2009) oder neurobiologisch begründeten (z. B. Panksepp und Biven 2012) Modellen gemachtFootnote 1. Das „Züricher Modell“ von Bischof (2009) und Bischof-Köhler (2011) geht von fünf basalen Motivsystemen aus: Bindung/Sicherheit, Exploration/Erregung, Autonomie (mit den Teilsystemen: Dominanz, Geltung und Kompetenz bzw. Eigenwert) sowie Sexualität und Fürsorge. Zu einer ähnlichen Liste mit sieben fundamentalen Motivationssystemen, verbunden mit Affekten, kommt Panksepp (1998; Panksepp und Biven 2012) aus neurobiologischer Perspektive: Seeking-System (Neugier), Rage-System (Selbstbehauptung), Fear-System (Sicherheit), Panic-System bzw. Separation Distress (Bindung), Lust-System (Sexualität), Care-System (Fürsorge; ist gemäß Panksepp aus dem Lust-System hervorgegangen) und Play-System (angeborenes Bedürfnis nach „Raufen und Balgen“, aber auch Lachen).

Emotionen können als Werkzeuge der Motive verstanden werden (Benecke 2014): Sie fungieren als Indikatoren und Evaluatoren der verschiedenen Motive. Emotionen stellen je nach aktiviertem Motivsystem, nach Situation und nach Interpretation des Subjekts mehr oder minder geeignete Werkzeuge im Dienste der jeweils aktivierten Motive dar. Emotionen dienen laut Buck (1985) aber keiner spezifischen Funktion und legen auch kein bestimmtes Verhalten nahe; vielmehr geben sie „Handlungsempfehlungen“ (Frijda 1996) und bilden die Grundlage für die Auswahl von Verhaltensalternativen oder intrapsychischen Prozessen (Bischof 2009).

Innerhalb klinischer Modelle werden folgende Motive/Bedürfnisse häufig als grundlegend angesehen:

  • Bindung, Sicherheit (Sandler 1960; Bowlby 1969; Lichtenberg 1991; Young et al. 2005)

  • Selbstwirksamkeit, Kontrolle (Grawe 2004; Young et al. 2005; Arbeitskreis OPD 2006)

  • Autonomie, Individuation (Young et al. 2005; Sachse 2004; Arbeitskreis OPD 2006)

  • Selbstbehauptung und Exploration (Lichtenberg 1991; Young et al. 2005)

  • Sinnliches Vergnügen, Lust, Sexualität (Freud 1905; Lichtenberg 1991; Grawe 2004)

  • Selbstwert (Kohut 1971, 1979; Grawe 2004; Sachse 2004)

  • Identität, Sinn, Konsistenz (Erikson 1966; Dammann et al. 2011; Young et al. 2005)

Eine abschließende Liste von unstrittigen „master motives“ (Westen 1997) existiert bisher nicht, wäre in Hinblick auf die Integration klinischer Modelle aber hilfreich. Ein Problem dabei stellt sicher die Heterogenität der Bezugs- bzw. Begründungssysteme der einzelnen Autoren dar. So bezieht sich Grawe (2004) auf Epstein (1990) und definiert als Grundbedürfnisse solche Bedürfnisse, die bei allen Menschen vorhanden sind und deren Verletzung oder dauerhafte Nichtbefriedigung zu Schädigungen der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens führen. Der Arbeitskreis OPD (2006) hingegen bezieht sich stark auf Bischof (1985) sowie auf Lichtenberg et al. (2000), mischt dies aber mit traditionellen psychoanalytischen Konzepten. Die Motivlisten von Young et al. (2005) und Sachse (2004) erscheinen relativ „selbst gestrickt“.

Einig sind sich aber alle darüber,

  • dass gravierende Verletzungen oder dauerhafte Nichterfüllung zu konflikthafter „Daueraktivierung“ bzw. leichter Aktivierbarkeit des jeweiligen Motivsystems führen,

  • dass auch spätere Aktivierungen dieser Motive dann meist mit der automatischen Aktivierung von leidvollen emotionalen Zuständen verknüpft sind, die aus den frühen Erfahrungen stammen und die nicht als motivdienliches Werkzeug fungieren, und

  • dass die Aktivierung dieser „alten“ leidvollen Emotionen wiederum den Einsatz von Emotionsregulierungsprozessen notwendig macht;

  • dass psychopathologisches Erleben und Verhalten als Endresultat dieser komplexen Prozesse angesehen werden sollte, wobei dem symptomwertigen Erleben und Verhalten teilweise dann wiederum emotions- und/oder motivregulierende Funktionen zugeschrieben werden;

  • dass der Großteil dieser motivationalen, emotionalen und regulativen Prozesse außerhalb der bewussten Wahrnehmung abläuft;

  • dass ER auch scheitern kann und

  • dass die Kompetenz zur ER einen wichtigen Aspekt psychischer Gesundheit darstellt (z. B. Barnow 2012; Benecke 2014).

Besonderer Regulationsbedarf besteht, wenn sogenannte passiv-negative Emotionen aktiviert werden. Dazu zählen Angst, Trauer, Einsamkeit, Scham, Schuld, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung etc. – diese emotionalen Zustände sind meist schwer erträglich, insbesondere über längere Zeit. Sind die individuell dominanten Motivsysteme aufgrund entsprechend negativer Erfahrungen mit solchen emotionalen Zuständen verknüpft, entwickeln sich meist hochgradig automatisierte Regulierungen, die verhindern (sollen), dass diese Emotionen ins subjektive Erleben gelangen.

2.2 Versuch einer Systematisierung der ER

Im Folgenden soll versucht werden, die Vielzahl von beschriebenen Emotionsregulierungsprozessen etwas zu systematisieren (Tab. 12.1).

Tab. 12.1 Versuch einer Systematik der Regulationsformen (modifiziert nach Benecke 2016)

In den Bereich A (unbewusst/automatisch und handelnd/interpersonell) fallen einerseits spontane Aktionen, die sich außerhalb der bewussten Wahrnehmung und ohne begleitende Reflexionen abspielen – diese erste und ursprüngliche Art der ER umfasst eine „automatisch bestimmte Handlungstendenz für Anpassungsreaktionen im Notfall“ (Scherer 1996, S. 306; vgl. auch Fonagy et al. 2004), d. h., es handelt sich hier weniger um ER im engeren Sinne, sondern eher um emotionale Verhaltens- oder Handlungssteuerung (vgl. Gross 2001), wobei die Handlungen dann wieder auf die Emotionen zurückwirken. Dazu können auch Muster im Beziehungsverhalten gerechnet werden, bei denen beispielsweise die jeweiligen Interaktionspartner zu bestimmten Handlungen „gebracht“ werden (sollen), die einen regulierenden Effekt auf die Emotionen des Subjekts haben (vgl. z. B. die Prototypischen Affektiven Mikrosequenzen (PAMs) von Bänninger-Huber 1996).

Im Bereich B (unbewusst und intrapsychisch) können die meisten der in der Psychoanalyse beschriebenen Abwehrmechanismen angesiedelt werden. Schon Freud (1915, S. 277) sah das „eigentliche Ziel“ der Abwehr in der „Unterdrückung der Affektentwicklung“. Abwehrmechanismen sind im Wesentlichen unbewusste kognitive Prozeduren, die angewendet werden, um motivationale Impulse und damit verknüpfte Affekte aus dem Bewusstsein fernzuhalten. Gelingt dieser Prozess, werden weder die Impulse noch die Affekte, noch die Abwehrmechanismen selbst dem Individuum bewusst. Im verhaltenstherapeutischen Kontext wurde das Konzept der „experiential avoidance“ (Vermeidung von negativen Gefühlen, anderen inneren Erfahrungen, unangenehmen Gedanken und Körperempfindungen) beschrieben (Gross und Levenson 1993; Penley et al. 2002; Wenzlaff und Wegener 2000), wobei hier konzeptuell nicht so klar ist, ob es sich um bewusste oder unbewusste/automatische Regulierungen handelt.

Solche unbewussten, automatischen Mechanismen und Muster, ob intrapsychisch oder interpersonell/handelnd, können als prozedural-dynamische Regulierungsprozesse verstanden werden: prozedural entsprechend dem impliziten bzw. prozeduralen Gedächtnis, also als neuronal gut gebahnte Abläufe; dynamisch in dem Sinne, dass diese Abläufe zum Ziel haben, negative Affektzustände vom bewussten Erleben fernzuhalten (Benecke 2014).

Auf der bewussten, reflexiven Ebene der ER (Bereiche C und D) finden sich Reaktionsweisen, die sich im Verlauf der Evolution durch eine „Entkoppelung instinktiver Reizreaktionskontingenzen“ entwickelt haben (Scherer 1996, S. 306). Dadurch entsteht eine Art mentaler Puffer mit einer Latenzzeit, während der Mensch aus einer großen Auswahl von möglichen Reaktionsweisen eine angemessene Strategie „aussuchen“ kann. Bei der ER auf dieser „höheren“ Ebene nimmt das Individuum seine eigenen Emotionen bewusst wahr und kann gleichzeitig den Gefühlszustand beeinflussen.

Im Bereich C (bewusst/reflexiv und handelnd/interpersonell) wären bewusst zur ER eingesetzte Handlungen angesiedelt, z. B. das Problem-focussed Coping, wie von Lazarus und Folkman (1984) beschrieben, das sich auf die emotionsauslösenden Bedingungen richtet, verbunden mit der Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten und Versuchen, die Situation zu verändern. Holodynski et al. (2013) nennen dies volitionale Handlungsregulation, die auf „intentional erzeugten Vorstellungen eines in der Zukunft liegenden, erstrebenswerten Zustands, dessen Erreichung zum Ziel der Handlung wird und das aktuelle Handeln im Hier und Jetzt ausrichtet“ (ebd., S. 199) – diese Handlungen haben wiederum einen regulierenden Effekt auf die aktuellen Emotionen. Auch das bewusste Unterdrücken (Suppression, Gross 2001) beispielsweise des Emotionsausdrucks oder bewusstes Ablenkungs- oder Vermeidungsverhalten kann hier angesiedelt werden.

Für den Bereich D (bewusst und intrapsychisch) wurden verschiedene Regulierungen beschrieben, wie z. B. das kognitive Reappraisal (Gross 2001), die reflexive ER (Holodynski et al. 2013), oder auch Achtsamkeit und Akzeptanz (z. B. Heidenreich und Michalak 2009) sowie die sogenannte Detached Mindfulness (Wells 2011). Psychodynamische Konzepte, die diese bewussten reflexiven Strategien abbilden, finden sich z. B. im Konzept der mentalisierten Affektivität (Fonagy et al. 2004), in der Affektregulation der Skalen Psychischer Kompetenzen (Huber et al. 2006) oder in den vom Arbeitskreis OPD (2006) beschriebenen affektbezogenen „strukturellen Funktionen“ (wie Affektdifferenzierung, Affekttoleranz oder die emotionale Kommunikation nach innen).

Auch wenn die reflexiven, intrapsychischen Formen der ER (Bereich D) allgemein als „reif“ und „adaptiv“ gelten, so finden sich dennoch in allen Bereichen adaptive und maladaptive, funktionale und dysfunktionale Regulationsformen. Die Tab. 12.1 bräuchte also eigentlich noch eine dritte Dimension. So gelten beispielsweise bestimmte Abwehrmechanismen (Bereich B) als adaptiv und sind empirisch entsprechend mit psychischer Gesundheit assoziiert, während andere Mechanismen als maladaptiv gelten und mit psychischen Störungen zusammenhängen (Lingiardi et al. 1999; Schauenburg et al. 2007; Mitmansgruber et al. 2011; Euler et al. 2016). Im Bereich D gilt kognitives Reappraisal als adaptiv (wobei die Studienlage uneindeutig ist, siehe unten), Grübeln hingegen klar als maladaptiv. Zusätzlich muss bedacht werden, dass jede Form der ER unter bestimmten Bedingungen adaptiv und funktional sein kann, unter anderen Bedingungen aber nicht (Kontextabhängigkeit der ER, auf die wir später noch eingehen werden).

3 Was heißt eigentlich „dysreguliert“? Emotionsregulation bei psychischen Störungen

Holodynski et al. (2013) beschreiben drei übergreifende Linien in der Entwicklung von Emotionen und deren Regulierung:

Im Laufe der Ontogenese kommt es zu einer Differenzierung von einfachen emotionalen Reaktionsmustern hin zu einer Vielzahl unterschiedlicher Emotionsqualitäten. Mit dieser Ausdifferenzierung geht eine „Feinabstimmung von Ausdruck und Körperreaktionen auf den Anlass und die situativen Umstände einher, die während einer Emotionsepisode in Abhängigkeit vom erfolgreichen Verlauf nachreguliert werden“ (ebd., S. 197), sodass die Unterscheidung in eine unregulierte Emotion und ER obsolet erscheint.

Die Regulationsfunktion entwickelt sich von einer interpersonellen Regulation (anfangs ist das Neugeborene bei der ER völlig abhängig von der Bezugsperson: Die Handlungen der Bezugsperson reguliert die Emotion des Kindes) hin zu einer selbstständigen, intrapsychischen Regulation.

Häufigkeit und Intensität von Emotionen nehmen im Laufe der Ontogenese ab, was mit der zunehmenden Kompetenz der intrapsychischen ER in Verbindung gebracht wird.

Alle drei Entwicklungslinien können gestört werden, und es ist augenscheinlich, dass psychische Störungen häufig damit einhergehen, dass 1) die Emotionen wenig differenziert sind und nur eingeschränkt situativ feinabgestimmt werden, dass 2) häufig auf interpersonelle Formen der Regulation bzw. des (maladaptiven) Verhaltens zurückgegriffen wird und dass 3) einige Emotionen häufig und intensiv auftreten (oder es zu emotionaler Leere kommt).

Neben der intrapsychischen ER-Kompetenz kann wohl die Fähigkeit zur interaktiven, wechselseitigen Ko-Regulation von Emotionen als ein wesentliches Merkmal psychischer Gesundheit angesehen werden (s. Teil IV und Kap. 13). Psychische Störung kann auf einer ganz basalen Ebene durch ein Ineinandergreifen intrapsychischer und interpersoneller Prozesse charakterisiert werden: 1) Es stehen nur sehr eingeschränkte Interpretationsmöglichkeiten situativer Gegebenheiten zur Verfügung; diese sind 2) mit einer begrenzten Anzahl von (bewussten und/oder unbewussten) Emotionszuständen verbunden, für deren Regulierung 3) nur die immer gleichen Prozesse eingesetzt werden können, was 4) zu den bei Patienten zu beobachtenden maladaptiven Verhaltensweisen führt, die 5) die Interaktionspartner wiederum zu Reaktionen bewegen, die 6) zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen, da sie von den Patienten wiederum in der ihnen „vertrauten“ Weise interpretiert werden.

Es ist also nicht die eine oder andere bestimmte ER-Form, die psychische Störung hervorbringt, sondern die individuell vorherrschenden ER-Strategien sind eingebettet in komplexe intrapsychische sowie interpersonelle Regelkreise ER-Flexibilität).

3.1 Maladaptive ER: Mechanismen, „Einsatzqualitäten“, Niveaus

Soll versucht werden, die Maladaptivität von ER zu bestimmen, können unterschiedliche Ebenen betrachtet werden: 1) Einzelne Regulationsstrategien können bezüglich ihrer Adaptivität/Maladaptivität bewertet werden; 2) der Einsatz von ER-Strategien kann hinsichtlich von Qualitäten wie Flexibilität/Rigidität oder Kontext- bzw. Situationsangemessenheit betrachtet werden; 3) es können allgemeine „Niveaus“ der ER postuliert werden.

(Mal-)Adaptivität einzelner ER-Strategien

Es wurden verschiedene Listen von adaptiven und maladaptiven ER-Strategien erstellt: maladaptiv deshalb, weil sie mit psychischer Störung einhergehen oder ungünstige Therapieverläufe vorhersagen; adaptiv, wenn Defizite in den jeweiligen Strategien als Risikofaktor für Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen betrachtet werden. Eine gute Übersicht über die Methoden zur Erfassung von Emotionsregulierung findet sich in Dorn et al. (2013).

Als in empirischen Studien relativ konsistent maladaptiv in diesem Sinne haben sich folgende „Strategien“ gezeigt: Rumination, Suppression (des Erlebens; weniger konsistent die Suppression des Emotionsausdrucks) sowie kognitive und verhaltensmäßige Vermeidung (Aldao und Nolen-Hoeksema 2010, 2012; Izadpanah et al. 2017). Beispielsweise steht hohe Experiential Avoidance in Zusammenhang mit erhöhtem emotionalen Stress und vermehrten negativen Kognitionen (Eifert und Hefner 2003; Feldner et al. 2003; Sloan 2004), mit hoher Rückfallwahrscheinlichkeit bei Suchterkrankungen, mit stärkerer Symptomatik/Belastung z. B. bei Angsterkrankungen und nach traumatischen Erfahrungen sowie mit einer schlechteren Therapieprognose (Chawla und Ostafin 2007; Rüsch et al. 2008; Berking et al. 2009), sodass Experiential Avoidance als dysfunktionale ER-Strategie angesehen wird (vgl. Fergus und Valentiner 2010; Cohen Kadosh et al. 2014; Lind et al. 2014).

Ähnlich finden sich bestimmte Abwehrmechanismen recht konsistent mit schwereren psychischen Störungen assoziiert, beispielsweise gilt dies für Spaltung, Ausagieren und Verschiebung (Schauenburg et al. 2007; Mitmansgruber et al. 2011; Hentschel et al. 2004).

Als adaptive ER gelten reflexive Strategien, wie kognitives Reappraisal und Akzeptanz, sowie, auf der Verhaltensebene, gezieltes Problemlösen und aktive Suche nach sozialer Unterstützung (z. B. Werner und Gross 2010; Berking und Wuppermann 2012; Izadpanah et al. 2017). Die Befundlage zu diesen Strategien ist allerdings widersprüchlich: So finden sich beispielsweise für die reflexiven Strategien Akzeptanz und Reappraisal häufig nur mäßige und manchmal gar keine Zusammenhänge mit psychischer Störung bzw. wird dieser Zusammenhang von der gleichzeitigen Verwendung maladaptiver Strategien moderiert, und Akzeptanz und Reappraisal erwiesen sich in einer groß angelegten Untersuchung als nicht prädiktiv für den Symptomverlauf (Aldao et al. 2010; Aldao und Nolen-Hoeksema 2012). Als adaptive – weil mit psychischer Gesundheit bzw. geringerer Störungsschwere assoziierte – Abwehrmechanismen gelten z. B. Humor, Sublimierung und Rationalisierung (Schauenburg et al. 2007; Mitmansgruber et al. 2011; Hentschel et al. 2004).

Allerdings scheint eine klare Zuordnung einzelner Strategien als adaptiv vs. maladaptiv oder als funktional vs. dysfunktional nicht unkritisch, da davon ausgegangen werden kann, dass jede der genannten ER-Strategien unter bestimmten Bedingungen funktional und unter anderen Bedingungen dysfunktional sein kann (Kap. 1 Adaptivität – Maladaptivität).

Flexibilität, Situationsangemessenheit, Chronizität von ER-Strategien

Oben wurde schon kurz angedeutet, dass das Vier-Felder-Schema (Tab. 12.1) eigentlich dreidimensional gedacht werden müsste, also die vier Felder jeweils mit einer funktionalen und einer dysfunktionalen Ebene (bzw. mit einem Kontinuum zwischen funktional und dysfunktional).

Allgemeine Kennzeichen der funktionalen Ebene wären z. B. Flexibilität, Kontext-/Situationsangepasstheit und Effektivität der ER-Strategien (Aldao 2013; Aldao et al. 2015; Bonanno und Burton 2013; Kashdan und Rottenberg 2010). Allgemeine Kennzeichen der dysfunktionalen Ebene wären entsprechend Rigidität oder Variabilität, mangelnde kontextuelle/situative Anpassung und Chronizität der ER-Strategien.

So findet sich bei Personen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (verglichen mit einer gesunden Kontrollgruppe) eine höhere Variabilität der ER-Strategien bei einer gleichzeitig reduzierten Fähigkeit zur effektiven Herunterregulierung des negativen Affekts (Daros et al. 2018). Diese Personen setzen also viele Strategien ein, um ihren negativen Affekt zu regulieren, allerdings sind diese Bemühungen nur bedingt effektiv und tragen nur partiell zu einer Reduktion des negativen Affekts bei.

Die Kontextabhängigkeit der ER kann mithilfe ambulatorischer Messverfahren (Ecological Momentary Assessment / EMA), Kap. 1 und 4) untersucht werden und bezeichnet die Fähigkeit, ER-Strategien einzusetzen, die mit kontextuellen Anforderungen synchronisiert sind (Aldao et al. 2015). Abhängig von einem bestimmten Kontext kann z. B. Reappraisal/Neubewertung, eine mutmaßlich adaptive ER-Strategie, zu einer effektiven ER führen. So kann der Einsatz dieser ER-Strategie dienlich sein, um die Emotion Ärger herunterzuregulieren, wenn der Partner zum verabredeten Abendessen zu spät kommt, weil er/sie im Stau feststeckt. Wohingegen in einem anderen Kontext der Einsatz von Reappraisal zu einer reduzierteren Effektivität der ER führen und damit eine mutmaßlich maladaptive ER-Strategie sein kann, beispielsweise wenn diese ER-Strategie genutzt wird, um berechtigte Anzeichen dafür zu ignorieren, dass der Partner eine Affäre hat und deswegen zu spät zum Abendessen kommt (Gross 1998).

Neben diesen „formalen“ Kriterien gibt es einzelne ER-Strategien, die per se problematischer sind, wenn sie nicht nur kurzfristig angewendet werden. So wäre eine zeitlich begrenzte Verleugnung u. U. funktional, z. B. bei einem Todesfall oder einer schweren Erkrankung, wird aber dysfunktional, wenn sie nicht langsam zurückgenommen werden kann. Ein gewisses Maß an Spaltung ist funktional im Falle von Verliebtheit (evtl. sogar deren Voraussetzung), wird aber zu einem Problem, wenn sie sich als dauerhafte Tendenz (und zudem noch bezogen auf alle anderen und sich selbst) etabliert. Die ja eigentlich als adaptiv geltende aktive Suche nach sozialer Unterstützung kann doch auch maladaptiv werden, wenn sie andauernd und bei jeder kleinen negativen Emotion praktiziert wird.

„Niveaus“ des „emotional functioning and regulation“

Ein alternativer konzeptioneller Rahmen, der häufig bei der Untersuchung von ER und Psychopathologie herangezogen wurde, besteht in Modellen, die breite Defizite der Emotionsregulierung beschreiben.

Einer der im klinischen Kontext einflussreichsten Ansätze wurde von Gratz und Roemer (2004) vorgeschlagen und definiert ER als ein multidimensionales Konstrukt, an dem vier Aspekte beteiligt sind: a) das Bewusstsein, das Verständnis und die Akzeptanz von emotionalen Erfahrungen, b) die Fähigkeit, zielgerichtetes Verhalten zu initiieren und impulsives Verhalten bei negativen Emotionen zu hemmen; c) die flexible Nutzung situationsangemessener Strategien zur Modulation der Intensität und/oder Dauer der emotionalen Reaktionen und d) die Bereitschaft, negative Emotionen als Teil der sinnstiftenden Aktivitäten zu erleben. Innerhalb dieses Modells wird vorgeschlagen, dass, wenn ein Individuum Defizite in einem dieser vier Bereiche zeigt, es eine emotionale Dysregulation aufweist. Die Difficulties in Emotion Regulation Scale (DERS; Gratz und Roemer 2004) wurde entwickelt, um diese multidimensionale Konzeptualisierung von ER zu operationalisieren.

In diese Modellgruppe sind weitere Konzepte einzuordnen, so beispielsweise die „Reife“ der Abwehr: Die „Reife“ bzw. „Unreife“ der individuell verwendeten Abwehrmechanismen zeigt substanzielle Zusammenhänge mit Wohlbefinden bzw. Störungsschwere (Hentschel et al. 2004; Mitmansgruber et al. 2011), und Veränderungen in Richtung „reifere Abwehr“ durch Psychotherapie hängen mit Symptomverbesserung zusammen (Perry und Bond 2012).

Der Arbeitskreis OPD (2006) beschreibt die „Strukturachse“ mit einer Reihe von emotionsbezogenen Funktionen (wie Affektdifferenzierung, Impulssteuerung, Affekttoleranz oder emotionale Kommunikation nach innen), deren Beeinträchtigungsgrad signifikant mit der Schwere psychischer Störung zusammenhängt (Benecke et al. 2009; Zimmermann et al. 2012).

Als weiteres stark auf Emotionen und ER bezogenes strukturelles Konzept kann die Mentalisierungsfähigkeit betrachtet werden (Fonagy et al. 2004). Es liegt eine Vielzahl an Studien vor, die zeigen, dass psychische Störungen mit Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit einhergehen und dass eine hohe Mentalisierungsfähigkeit als ein Resilienzfaktor in Hinblick auf die Entwicklung von psychischen Störungen gesehen werden kann (z. B. Fonagy et al. 2004; Rothschild-Yakar et al. 2010, 2013; Katznelson 2014). „Das Konzept der ‚mentalisierten Affektivität‘ bezeichnet die Affektregulierungsfähigkeit des Erwachsenen, die es ermöglicht, sich der eigenen Affekte bewusst zu sein und den Affektzustand gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Diese Affektivität kennzeichnet die Fähigkeit, die Bedeutung(en) der eigenen Affektzustände zu ergründen“ (Fonagy et al. 2004, S. 104). Fonagy et al. (2004) bezeichnen die mentalisierte Affektivität als „höchste Form der Affektregulation“. Jüngst wurde ein Fragebogen zur Messung der mentalisierten Affektivität vorgestellt (Greenberg et al. 2017). Das Konzept wird durch drei Skalen operationalisiert: 1) Identifizieren von Emotionen (die Fähigkeit, Emotionen zu identifizieren und über die Faktoren nachzudenken, die sie beeinflussen); 2) Verarbeitung von Emotionen (die Fähigkeit, komplexe Emotionen zu modulieren und zu unterscheiden) und 3) Emotionen ausdrücken (die Tendenz, Gefühle nach außen oder innen auszudrücken). Diese Komponenten sind mit Persönlichkeitsmerkmalen, Wohlbefinden, Trauma und verschiedenen psychologischen Störungen verbunden und variieren über Behandlungsmodalitäten und Behandlungsdauer hinweg.

Mangelnde „emotional reflectiveness“ hängt schon bei Kindergartenkindern mit ausgeprägten emotionalen und Verhaltensproblemen zusammen (Juen et al. 2009), während hohe „emotional reflectiveness“ ein starker Resilienzfaktor zu sein scheint, da Kinder mit einer solchen selbst bei Vorliegen ausgeprägter sozioökonomischer Risikofaktoren kein Problemverhalten zeigen (Benecke 2014).

Insgesamt werden hier also eher breit angelegte bzw. komplexe Fähigkeiten beschrieben, die eine deutliche Verbindung zu allgemeinen Persönlichkeitsfunktionsniveaus haben. Ähnlich enthält die im Alternativen Modell zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen zentrale Levels of Personality Functioning Scale (LPFS) etliche Aspekte, die sich auf ER beziehen, wie z. B. „Ist in der Lage, eine ganze Bandbreite von Emotionen zu erleben, auszuhalten und zu regulieren“, mit entsprechend zunehmenden Einschränkungen dieser Fähigkeit bei den „lower levels“.

3.2 Psychische Störungen und ER: Versuch einer Zuordnung

Empirisch findet sich ein Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und psychischen Störungen insofern, als der Einsatz mutmaßlich maladaptiver ER-Strategien mit Psychopathologie assoziiert ist, auch wenn adaptive ER-Strategien vorliegen (Aldao et al. 2010). So stellt sich die Frage, ob z. B. der Einsatz der ER-Strategie Rumination spezifisch für depressive Störungsbilder ist. Nach wie vor ist unklar, inwiefern spezifische ER-Defizite charakteristisch für bestimmte psychische Störungsbilder sind. Einer fundierten Untersuchung dieser Frage haben wir uns auf zwei Wegen angenähert: Zum einen haben wir für eine empirische Überprüfung dieses Zusammenhangs ein systematisches Review von Peer-reviewed-Studien zu ER und Psychopathologie durchgeführt, die seit 2009 veröffentlicht wurden (entsprechend nach der Metaanalyse von Aldao et al. 2010). Angesichts der komplexen Multidimensionalität des Konstrukts der ER wird dieser empirische Überblick v. a. auf individuelle Unterschiede im Einsatz sowie in der Effektivität von ER-Strategien fokussieren. Kriterien für die systematische Literaturrecherche waren eine valide und reliable Messung der ER (u. a. psychometrisch gut untersuchte Fragebögen), eine valide und reliable klinische Diagnostik der psychischen Störung sowie das Vorliegen einer psychisch gesunden Kontrollgruppe. Eine detaillierte Beschreibung der systematischen Literatursuche und der Einschlusskriterien findet sich in Tab. 12.2. Ein Flussdiagramm des systematischen Review-Prozesses wird in Abb. 12.1 illustriert.

Tab. 12.2 Beschreibung der systematischen Literatursuche und Einschlusskriterien
Abb. 12.1
figure 1

Flussdiagramm der systematischen Literatursuche und des Auswahlverfahrens

Darüber hinaus haben wir Kategorien von teilweise störungsübergreifenden ER-Defiziten identifiziert, die sich bei psychischen Störungen erkennen lassen. Die Bestimmung störungsübergreifender klinischer Phänomene aus ER-Perspektive kann auf einen zugrunde liegenden psychopathologischen ER-Mechanismus hinweisen und damit zu einem umfassenderen Verständnis dieses Zusammenhangs beitragen. Mit diesem Vorgehen wollen wir ER-Defizite einzelner Störungsbilder näher verstehen, um so der Frage nachzugehen, welche ER-Defizite mit welchen psychischen Störungen assoziiert sind und ob bestimmte ER-Defizite exklusiv im Rahmen spezifischer Störungsbilder auftreten.

Im Folgenden werden die von uns bestimmten Kategorien und teilweise störungsübergreifenden klinischen Phänomene aus ER-Perspektive – „fehlgeleitete Affektivität“, „krankheitswertige Verhaltensweisen als ER-Ersatzmittel“, „Formen des Abschaltens von Emotionen“ und „Mischformen“ – dargestellt und mit der aktuellen empirischen Forschung illustriert.

3.2.1 Fehlgeleitete Affektivität: Gefühl selbst ist krankheitswertig

Ein charakterisierendes Merkmal sowohl der Angst- als auch der depressiven Störungen ist eine fehlgeleitete Affektivität an sich. Angststörungen zeichnen sich aus durch ein „Zuviel“ an ängstlichen Affekten, wohingegen bei depressiven Störungen negative Affektivität im Vordergrund steht, die jeweils mit einer hohen Belastung für die Betroffenen einhergehen (Dilling und Freyberger 2013). Dementsprechend kann die Affektivität an sich, die im Rahmen dieser beiden Störungsbilder bedeutsam ist, als krankheitswertig angesehen werden.

Der Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und Angststörungen wie der generalisierten Angststörung und der sozialen Phobie

Im Rahmen des Reviews fokussieren wir hier auf die generalisierte Angststörung und die soziale Phobie, da in empirischen Artikeln hauptsächlich diese beiden Störungsbilder untersucht werden, was aber nicht bedeutet, dass es nicht auch reichhaltige Forschung zu den weiteren Angststörungen (wie Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, spezifische Phobie, akute Belastungsreaktion, PTSD) gibt, allerdings fokussieren eine Vielzahl dieser Studien eher auf subsyndromale Symptome und studentische Stichproben als auf klinische Populationen mit klinischen Diagnosen.

wird von der empirischen Forschung der vergangenen Jahre unterstützt (Blalock et al. 2016; Kerns et al. 2014; Plate et al. 2016; Tsypes et al. 2013). ER-Defizite scheinen prädiktiv für Angststörungen zu sein (McLaughlin et al. 2011; Tull et al. 2009), weswegen diese als Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Angststörungen diskutiert werden. Auf behavioraler Ebene findet sich, dass Patienten mit Angststörungen, verglichen mit gesunden Kontrollpersonen, häufiger „maladaptive“ ER-Strategien (Suppression und Nichtakzeptanz) und weniger „adaptive“ ER-Strategien (Zugang zu ER-Strategien und Klarheit) anwenden (Fragebögen DERS und ERQ), wobei sich dieses Muster auch unabhängig von der Komorbidität mit depressiven Störungen zeigt.

Anhaltende negative Affektivität und die Schwierigkeit, positive Emotionen zu empfinden, sind Hauptkennzeichen depressiver Störungen (Dilling und Freyberger 2013). Der Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und depressiven Störungen (v. a. Major Depressive Disorder) ist gut belegt (Becerra et al. 2016; Brockmeyer et al. 2012a; D’Avanzato et al. 2013; Gruber et al. 2013; Lei et al. 2014; Svaldi et al. 2012). Bei den von uns selektierten Studien zeigte sich konsistent, dass Personen mit depressiven Störungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen häufiger maladaptive (suppression, impulse, non-acceptance, rumination, self-blame, and catastrophizing) und seltener adaptive ER-Strategien (goals, strategies, and putting into perspective) sowie größere Schwierigkeiten mit adaptiven ER-Strategien berichten. Die Befunde zu den ER-Strategien blaming others, distraction, reappraisal, awareness, clarity und refocus on planning sind weniger eindeutig, mit widersprüchlichen Befunden zur Häufigkeit der Nutzung. Für Suppression findet sich bei Patienten mit depressiven Störungen ein größerer Aufwand und damit ein höherer Energie-/Ressourcenverbrauch als bei gesunden Kontrollpersonen (D’Avanzato et al. 2013; Gruber et al. 2013). Bei Studien, die ER-Strategieprofile von depressiven Patienten mit Anorexia nervosa und sozialer Phobie vergleichen, findet sich kein „depressionsspezifisches“ ER-Strategieprofil (D’Avanzato et al. 2013). Wenngleich bestimmte ER-Strategien mehr mit einem bestimmten Störungsbild assoziiert zu sein scheinen, ist dennoch ein störungsspezifisches Muster nicht nachweisbar und deutet damit ein transdiagnostisches Verständnis der ER im Rahmen von Psychopathologie an. Entsprechend fassen beispielsweise Barlow et al. (2011) Depressionen und Angststörungen zu „emotional disorders“ zusammen und betrachten ER-Defizite als diesen Störungen gemeinsam zugrunde liegenden Faktor.

Im Rahmen dieser beiden Störungsbilder ist die Affektivität an sich bedeutsam und könnte als spezifisches ER-Merkmal bzw. ER-Defizit verstanden werden – damit kann die Affektivität an sich auch als krankheitswertig angesehen werden. Denn symptomwertige Emotionen können gleichzeitig eine Regulationsfunktion innehaben: Sie verhindern/blockieren/vermeiden das Erleben anderer, u. U. subjektiv noch schwierigerer Gefühle, wie beispielsweise Wut/Ärger/Aggression oder „echte Trauer“ bei Depression (Rudolf und Henningsen 2013).

3.2.2 Krankheitswertige Verhaltensweisen als ER-Ersatzmittel

Eine weitere Kategorie von ER-Defiziten, die sich bei verschiedenen psychischen Störungen zeigt, ist, dass krankheitswertige Verhaltensweisen als ER-Ersatzmittel dienen können. Dementsprechend könnte symptomwertiges Verhalten, das sich in unterschiedlicher Form bei verschiedenen psychischen Störungen zeigt, eine emotionsregulatorische Funktion aufweisen und entsprechend als ER-Strategie verstanden werden.

Als klinisches Phänomen sind zum einen Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken zu nennen, die u. a. im Rahmen von Zwangsstörungen auftreten können (Dilling und Freyberger 2013). Empirisch findet sich ein Zusammenhang zwischen Zwangsstörungen und ER-Defiziten (de la Cruz et al. 2013; Goldberg et al. 2016; Yap et al. 2017), wobei Personen mit Zwangsstörung mehr ER-Defizite als gesunde Kontrollpersonen aufweisen. Dieser Befund bleibt auch unter der Kontrolle soziodemografischer Faktoren sowie ängstlicher und depressiver Symptome stabil und lässt vermuten, dass die ER-Defizite bei Zwangsstörungen nicht nur durch die Komorbidität mit affektiven Störungsbildern zu verstehen sind (Yap et al. 2017). Allerdings findet sich in den Studien von de la Cruz et al. (2013) und Yap et al. (2017) kein direkter bedeutsamer Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und dem Schweregrad der Zwangssymptome. Die Autoren folgern, dass die Zwangssymptome an sich eine emotionsregulatorische Funktion in belastenden Situationen innehaben können und dementsprechend die Befunde beeinflussen. Dies wird auch durch die Studienergebnisse von Goldberg et al. (2016) unterstützt, die auch keinen bedeutsamen Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und Zwangssymptomen berichten, sondern die Vermittlung dieses Zusammenhangs durch den Affekt und kognitive Rigidität (Goldberg et al. 2016). Dagegen zeigt sich in der Untersuchung von ER und Trichotillomanie (zwanghaftes Haareausreißen), dass die Versuchspersonen, die dieses Verhalten zeigten, signifikant häufiger Schwierigkeiten berichteten, ihre Emotionen zu kontrollieren (Shusterman et al. 2009), was die Vermutung nahelegt, dass dieses Verhalten von den Betroffenen zur ER genutzt wird.

Auch Symptome von Essstörungen (Binge Eating, Erbrechen (z. B. bei Bulimia nervosa) und restriktives Essverhalten (z. B. bei Anorexia nervosa) können als dysfunktionale Versuche zur Regulation negativer Emotionen verstanden werden. Die empirische Forschung bestätigt den Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und Essstörungen (Brockmeyer et al. 2012b; Harrison et al. 2009, 2010; Lavender et al. 2014, 2015; Merwin et al. 2013; Oldershaw et al. 2015; Svaldi et al. 2012), wobei dieser Zusammenhang auf affektive Veränderungen zurückgeführt werden kann – Patienten mit Bulimia nervosa erleben seltener negative Emotionen und steigende positive Gefühle nach Ess-Brech-Episoden, wobei sie vorab mehr negative Gefühle und weniger positive Gefühle berichtet haben (Selby et al. 2012). Ein systematisches Review von 18 experimentellen Studien zu ER-Defiziten und Binge Eating Disorder weist darauf hin, dass das Erleben negativer Emotionen zu Essanfällen führen kann, wodurch zumindest kurzfristig eine affektive positive Veränderung herbeigeführt werden kann (Leehr et al. 2015). Aktuelle Studien unterstützen damit die Annahme, dass gestörtes Essverhalten an sich emotionsregulatorische Funktion haben, zu einer Veränderung von negativer zu positiver Affektivität führen und damit als dysfunktionale ER-Strategie verstanden werden kann. Haedt-Matt und Keel (2011) kommen in ihrer Metaanalyse zu EMA-Studien zu ähnlichen Ergebnissen und finden bei Patienten mit Bulimia nervosa und Binge Eating Disorder erhöhte negative Affektivität vor Binge-Eating-Episoden. Verglichen mit der Studie von Selby et al. (2012) scheint diese Regulationsform allerdings nur einen kurzfristigen Effekt zu haben, da der negative Affekt nach der Episode wieder zu steigen beginnt (Haedt-Matt und Keel 2011). Ein anderes Bild zeigt sich bei Patienten mit Anorexia nervosa: Haynos et al. (2015) finden an Tagen mit restriktivem Essverhalten bei diesen Patienten hohe negative Affektivität im Vergleich zu Tagen ohne restriktives Essverhalten oder sogar mit Essanfällen, wenngleich hier ein sehr grober Zeitraum gewählt ist. Dies kann den Schluss nahelegen, dass restriktives Essverhalten nicht zu einer Veränderung der negativen Affektivität beiträgt. Die Befunde dieser aktuellen Studien werfen damit die Frage auf, inwieweit die unterschiedlichen essgestörten Verhaltensweisen verschiedene emotionsregulatorische Funktionen aufweisen: Während Ess-Brech-Anfälle zumindest kurzfristig zur Reduktion negativer Affektivität beitragen, scheint restriktives Essverhalten keinen Effekt auf negative Affektivität zu haben, was allerdings nicht dagegen spricht, auch dies als ER-Ersatzmittel zu verstehen, nur bringt es eben nicht den erhofften Effekt.

Des Weiteren kann auch Suchtverhalten, das sowohl bei stoffgebundenen (Alkohol, Drogen, Medikamente) als auch nichtstoffgebundenen Substanzstörungen wie pathologischem Glücksspiel (Spielsucht, pathological gambling) auftritt, emotionsregulatorische Funktion haben. Aktuelle Studien unterstützen den Zusammenhang zwischen Substanzstörungen und ER-Defiziten (Di Pierro et al. 2015; Gratz und Tull 2010; Williams et al. 2012; Wolff et al. 2016). Die von uns selektierten Studien untersuchen mithilfe der DERS den Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und Substanzstörungen und finden bei Personen mit Substanzabhängigkeit bedeutsam mehr ER-Defizite als in den Kontrollgruppen. Dabei fokussieren aktuelle Studien auf zugrunde liegende Mechanismen, um die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Substanzstörungen besser zu verstehen – angesichts der deutlich erhöhten Komorbiditätsrate bei Substanzstörungen mit anderen psychischen Störungen könnten ER-Defiziten eine mediierende und damit vermittelnde Rolle zukommen, innerhalb dessen Substanzkonsum an sich als ER-Strategie verstanden werden kann, um negative Gefühle (kurzfristig) zu regulieren und damit zu entfliehen. Darüber hinaus zeigt sich bei der Untersuchung spezifischer negativer Emotionen im Traumakontext, dass bestimmte trauma-assoziierte negative Emotionen Personen in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam zu sein scheinen. In einer EMA-Studie untersuchten und verglichen wir die alltägliche Regulation von Traurigkeits- und Schamgefühlen bei frühtraumatisierten Personen mit Substanzabhängigkeit, bei frühtraumatisierten Personen ohne psychische Erkrankung sowie bei psychisch gesunden Kontrollpersonen ohne Traumahintergrund. Die Regulation von hochintensiven Schamgefühlen ist selbst bei psychisch gesunden Personen mit Traumahintergrund mit einem bedeutsamen Anstieg von Substanzkonsum verknüpft, wohingegen sich die Regulation von intensiver Scham und Traurigkeit bei psychisch Gesunden ohne Traumahintergrund nicht unterschied. Dementsprechend scheinen intensive Schamgefühle im Kontext früher traumatischer Erfahrungen mit einem besonderen Risiko für Substanzkonsum assoziiert zu sein (Holl et al. 2016).

Auch bei selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen (SVV), die u. a. im Rahmen der Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten können, findet sich ein Zusammenhang mit ER-Defiziten, wobei Personen mit selbstschädigenden Verhaltensweisen mehr ER-Defizite aufweisen als gesunde Kontrollpersonen (Bresin 2014; Victor und Klonsky 2014). Hamza und Willoughby (2015) bestätigen in einem systematischen Review, dass selbstschädigende Verhaltensweisen emotionsregulatorische Funktion haben können: Sowohl experimentell als auch in EMA-Studien zeigte sich eine affektive Veränderung des negativen Affekts vor im Vergleich zum Zeitpunkt nach SVV. Empirisch finden sich steigende negative Affektivität wie Wut gegen sich selbst und andere, Gefühle von Zurückweisung und Schuld vor SVV (Armey et al. 2011; Bresin et al. 2013; Muehlenkamp et al. 2009; Nock et al. 2009), nach diesem Verhalten eine reduzierte negative Affektivität (Armey et al. 2011) oder sogar mehr positive Emotionen (Muehlenkamp et al. 2009). Diese Befunde bestätigen die Annahme, dass selbstschädigende Verhaltensweisen als dysfunktionale ER-Strategien zur Regulation negativer Emotionen verstanden werden können.

Zusammenfassend: Die oben erwähnten Studien dokumentieren Zusammenhänge zwischen ER-Defiziten und psychopathologischen Symptomen bei Zwangsstörungen, Essstörungen, Suchtstörungen sowie selbstschädigenden Verhaltensweisen. Aus empirischer Sicht könnten die psychopathologischen Symptome selbst (also Zwangshandlungen, Binge Eating, Erbrechen, restriktives Essverhalten, Suchtverhalten und selbstverletzende Verhaltensweisen) als Ausdruck von letztlich dysfunktionalen Regulierungsstrategien verstanden und demzufolge als fehlgeleiteter Regulationsversuch interpretiert werden.

3.2.3 Formen des „Abschaltens“ von Emotionen

Eine andere Form des „Umgangs“ mit Emotionen zeigt sich bei Patienten mit somatoformen Störungsbildern – hier findet sich ein stark eingeschränktes emotionales Erleben, was mit dem Begriff Alexithymie („Seelenblindheit“ bzw. „keine Worte für Gefühle“) beschrieben wurde (Marty und M’uzan 1978; Nemiah und Sifeneos 1970). Wesentliches Merkmal ist die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und mit Worten zu beschreiben. Operationalisiert wird Alexithymie u. a. mittels der Toronto-Alexithymie-Skala (TAS; Kupfer et al. 2001). Das Alexithymie-Konzept blieb nicht unumstritten (siehe Hoppe 1989; Weidenhammer 1986; Gündel 2009) und wurde als eine spezielle Persönlichkeitsstruktur bei Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen und somatoformen Störungen verstanden. Aktuell wird weder davon ausgegangen, dass Alexithymie spezifisch für Patienten mit somatoformen Störungen ist, noch, dass es sich um eine notwendige Voraussetzung dafür handelt (Ermann 2016). Stattdessen wird Alexithymie mit dem Konzept der Mentalisierung in Verbindung gebracht (z. B. Gündel 2009; Taylor und Bagby 2013) und daher eher als unspezifischer Vulnerabilitätsfaktor angesehen. Gleichzeitig liegen etliche Studien vor, die besonders ausgeprägte Defizite in der Fähigkeit, die eigenen Gefühle differenziert wahrzunehmen und zu beschreiben, bei Patienten mit psychosomatischen und somatoformen Störungen finden (z. B. Subic-Wrana et al. 2005; Stonnington et al. 2013).

Im Rahmen unseres Reviews erfüllte eine Studie die stringenten Einschlusskriterien, was allerdings nicht bedeuten soll, dass es keinen Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und somatoformen Störungen gibt, sondern eher, dass dieser Zusammenhang noch nicht gut untersucht ist. In der aktuellen Studie von Erkic et al. (2017) zeigte sich ein bedeutsam höheres Ausmaß der Alexithymie (erfasst mittels TAS-20 als ein Maß für ER) bei Patienten mit somatoformen Störungen als bei gesunden Kontrollpersonen, besonders auf den beiden Subskalen Schwierigkeiten, Gefühle zu identifizieren und Schwierigkeiten, Gefühle zu beschreiben. Zudem zeigt sich ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen Alexithymie und verschiedenen ER-Strategien (ERQ), wobei das Ausmaß der Alexithymie (Schwierigkeit, Gefühle zu identifizieren) negativ korreliert mit der ER-Strategie kognitives Reappraisal (ERQ) und Patienten mit somatoformen Störungen diese ER-Strategie weniger nutzen als Kontrollpersonen.

Dementsprechend könnte man dieses klinische Bild als eine besondere Form der Emotions-„Regulation“ mit Alexithymie-Neigung, also als das „Abschalten“ von Emotionen verstehen. Ein „Abschalten“ findet man ja auch partiell oder temporär bei anderen Störungen, wie das chronische Gefühl der „inneren Leere“ bei Borderline oder Psychosen; „emotional numbing“ bei Posttraumatischen Belastungstörungen; fehlende Schuld und Reue bei antisozialer Persönlichkeitsstörung/Psychopathie (Dilling und Freyberger 2013).

3.2.4 Mischung aus symptomwertig gewordenem Erleben und dessen Regulation

Natürlich können auch Mischformen aus symptomwertig gewordenem emotionalem Erleben und dessen Regulation auftreten, was besonders bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten ist. Beispielhaft genannt werden sollen hier Scham bei Patienten mit selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung oder Verzweiflung und Wut bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie die (unzureichende) Regulation dieser Emotionen auf Verhaltensebene (Clarkin et al. 2018), was sich wiederum in den jeweilig dominierenden Psychopathologien widerspiegeln kann.

Fazit I: ER als transdiagnostischer Faktor für Psychopathologie

Emotionen und der Umgang mit Emotionen haben eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen. Um die konkrete Rolle der ER im Rahmen psychischer Störungen besser zu verstehen, haben wir untersucht, ob bestimmte ER-Defizite exklusiv im Rahmen spezifischer Störungsbilder auftreten. Unter der Berücksichtigung stringenter Einschlusskriterien haben wir eine systematische Literaturrecherche zum Zusammenhang zwischen ER-Defiziten und Psychopathologie durchgeführt.

Die selektierten Studien unterscheiden sich maßgeblich in der Konzeptualisierung und Messung von ER, was in Bezug auf Vergleiche der Studien nur eine bedingte Aussagekraft zulässt. So wurden in den selektierten Studien v. a. Fragenbögen zur Erfassung konkreter ER-Strategien (v. a. ERQ) bzw. breiter Aspekte emotionaler Dysregulation (v. a. DERS) angewandt. Hieraus ergeben sich mehrere Schwierigkeiten: Zum einen sind diese Selbstbeschreibungsfragebögen subjektiv und damit kein objektiver Parameter für die Messung der ER-Fähigkeiten, die zudem das Risiko retrospektiver Verzerrungen und damit einer nicht sehr validen Abbildung der ER-Fähigkeiten. Darüber hinaus erfordert eine valide Selbsteinschätzung der ER die Fähigkeit zur Wahrnehmung intrapsychischer Prozesse, die bei Personen mit gering ausgeprägten reflexiven Fähigkeiten eingeschränkt sein kann. Des Weiteren erlauben die meist querschnittlichen Studiendesigns keine Aussage zur Kausalität des Zusammenhangs zwischen ER-Defiziten und Psychopathologie. Ausschließlich longitudinale Studien können klären, ob ER-Defizite eine weitere psychopathologische Entwicklung beeinflussen oder eben umgekehrt. Darüber hinaus bezeichnet die Fähigkeit zur ER einen komplexen Prozess, in dem der Umgang mit Emotionen (also der Einsatz konkreter ER-Strategien) als ein Aspekt von vielen ineinandergreifenden ER-Prozessen betrachtet werden kann. Angesichts methodisch teilweise „noch unzureichender“ Möglichkeiten zur Untersuchung des umfassenden ER-Prozesses (s. Teil I) besteht die Gefahr der Vernachlässigung weiterer wichtiger Aspekte, wie z. B. die Relevanz der Kontextabhängigkeit, Flexibilität und das Repertoire der ER-Strategien (Aldao et al. 2015; Bonanno und Burton 2013). Wenig empirische Berücksichtigung finden bislang auch individuelle (emotionale sowie biografische) Erfahrungshintergründe sowie selbstreflexive Fähigkeiten (u. a. Mentalisierung), die für die ER-Fähigkeiten im Zusammenhang mit Psychopathologie bedeutsam zu sein scheinen (Greenberg et al. 2017). Dementsprechend war im Rahmen unserer systematischen Untersuchung nur die Untersuchung diagnosespezifischer ER-Strategien im Zusammenhang mit psychischen Störungen möglich.

Wir konnten kein diagnosespezifisches Muster dysfunktionaler ER-Strategien identifizieren: zwar zeigte sich nahezu störungsübergreifend, dass Patienten (jedweder Störung) signifikant mehr „maladaptive“ und weniger „adaptive“ ER-Strategien berichten als gesunde Kontrollprobanden, die wenigen Untersuchungen, die mehrere Störungsgruppen miteinander vergleichen, finden aber kaum bedeutsame Unterschiede in den verwendeten ER-Strategien. Dagegen ermöglicht die phänomenologische Betrachtung psychopathologischer Störungsbilder und Symptome unter ER-Perspektive u. E. zurzeit mehr Aufschluss und führte uns zur Bestimmung von vier Kategorien von störungsübergreifenden ER-Defiziten: 1) Sowohl bei Angst- als auch bei depressiven Störungen ist eine krankheitswertige Affektivität an sich evident. Demzufolge ist im Rahmen dieser beiden Störungsbilder die Affektivität an sich bedeutsam und könnte als spezifisches ER-Merkmal bzw. ER-Defizit mit einer Regulationsfunktion verstanden werden. So kann durch symptomwertige – z. B. einen übermäßigen depressiven Affekt – das Erleben anderer, u. U. subjektiv noch schwierigerer Gefühle wie beispielsweise Wut/Ärger/Aggression oder „echter Trauer“ bei Depression verhindert oder blockiert werden. Weiterhin können 2) psychopathologische Verhaltensweisen wie gestörtes Essverhalten, Zwangshandlungen oder Suchtverhalten an sich als ER-Strategie verstanden werden, die die Funktion haben können, negative Affekte zu regulieren. 3) Als eine besondere Form der Emotions-„Regulation“ mit Alexithymie-Neigung könnte das „Abschalten“ von Emotionen verstanden werden, wie es u. a. bei Patienten mit somatoformen und psychosomatischen Störungsbildern zu bemerken ist. Bei diesen Patienten ist ein bedeutsames Symptom der fehlende Zugang zu Emotionen sowie eine generelle Schwierigkeit der Wahrnehmung von Emotionen. 4) Mischformen aus symptomwertig gewordenem emotionalem Erleben (wie bei Angst- und depressiven Störungen) und dessen Regulation sind besonders bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten, wie die massive Verzweiflung und Wut bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie die (unzureichende) Regulation dieser Emotionen auf Verhaltensebene.

Zusammenfassend: Im Rahmen dieses systematischen Reviews fanden wir keine Hinweise für spezifische ER-Defizite (in unserem Fall diagnosespezifische ER-Strategien), die ausschließlich für ein bestimmtes Störungsbild charakteristisch sind. Daraus kann gefolgert werden, dass ER-Defizite als ein transdiagnostischer Faktor für Psychopathologie verstanden werden können (Aldao et al. 2016). Die vorliegenden Befunde stützen die Annahme, dass ER-Defizite ein wesentlicher Bestandteil von verschiedenen Erscheinungsformen der Psychopathologie sind (Kring und Sloan 2010). Eine transdiagnostische Sichtweise unter ER-Perspektive ermöglicht ein komplexeres Verständnis von Psychopathologie, insbesondere angesichts der hohen Komorbidität psychischer Störungen (Barlow et al. 2004; Norton und Paulus 2016).

Dass ER-Defizite und strukturelle Beeinträchtigungen nicht lediglich mit psychischer Störung einhergehen (bzw. vielleicht sogar eher Folge psychischer Störungen sind), zeigen verschiedene prospektive Studien: So findet sich beispielsweise maladaptive ER schon vor der Entwicklung depressiver und anderer Symptome (Barnow 2012); der Grad der Mentalisierungsfähigkeit der Eltern ist prognostisch für die Entwicklung der Kinder (Katznelson 2014); die erfolgreiche Etablierung von ER-Skills in der Psychotherapie sagt nachfolgende Symptomverbesserung vorher, aber nicht umgekehrt (Radkovsky et al. 2014). Die vorliegenden Befunde sprechen u. E. dafür, dass die beschriebenen emotionalen Prozesse als echte Vulnerabilitätsfaktoren anzusehen sind. Entsprechend bedeutsam erscheint die Bearbeitung dieser Prozesse in der Psychotherapie. Damit kann die ER als ein transdiagnostischer Behandlungsfokus psychischer Störungen (Sloan et al. 2017) sehr sinnvoll sein.

4 Emotionsregulation in der Psychotherapie

Die Befundlage der vergleichenden Psychotherapie-Wirksamkeitsforschung lässt sich insgesamt durch das sogenannte Äquivalenzparadox beschreiben (z. B. Wampold und Imel 2015): Es finden sich nur selten substanzielle Unterschiede in der Wirksamkeit unterschiedlicher Psychotherapiemethoden, stattdessen bringen verschiedene Verfahren, Methoden und Techniken im Wesentlichen äquivalente Behandlungsergebnisse hervor.

Zur Erklärung dieses Phänomens wird häufig auf sogenannte unspezifische oder allgemeine Wirkfaktoren verwiesen, d. h. Faktoren, die allen Psychotherapien mehr oder weniger gemein sind. Zusammenstellungen von allgemeinen/unspezifischen Wirkfaktoren finden sich beispielsweise bei Karasu (1986), Tschuschke und Czogalik (1990) oder, für Gruppentherapien, bei Yalom (1989). Die bekannteste stammt von Grawe (1998), der folgende grundlegende Wirkprinzipien von Psychotherapie annimmt: 1) Der Faktor Ressourcenaktivierung weist auf die Möglichkeit hin, die im Patienten bereits vorhandenen Stärken und Fähigkeiten aufzugreifen. 2) Problemaktualisierung als Wirkprinzip meint das nochmalige, unmittelbare Erleben der Probleme eines Patienten. 3) Das Wirkprinzip Problembewältigung bezieht sich auf den Aspekt des „Könnens“ (bzw. Nichtkönnens) eines Patienten. 4) Das Wirkprinzip Klärung betrachtet die Bedeutung, den Sinn, die Ziele und Befürchtungen, also implizite Mechanismen (Grawe 1998). 5) Zudem gilt die Qualität der therapeutischen Beziehung als empirisch am besten gesicherter Wirkfaktor von Psychotherapie (Høglend 2014).

Angesichts der zentralen Bedeutung, die Emotionen und ER für psychische Störungen haben, liegt die Vermutung nahe, dass das Äquivalenzparadox zumindest teilweise dadurch zustande kommt, dass die unterschiedlichen Psychotherapieverfahren und -methoden auf ihre je spezifische Weise an Emotionen und ER arbeiten (auch wenn dies oftmals nicht explizit konzeptualisiert wird), und dass die bisher formulierten allgemeinen Wirkfaktoren ebenfalls einen starken Bezug zur Arbeit an Emotionen und ER aufweisen.

4.1 Befunde der Psychotherapie-Prozessforschung

Für diese Sichtweise, dass das Äquivalenzparadox dadurch zustande kommt, dass alle Verfahren an der ER arbeiten, sprechen übereinstimmende und verfahrensübergreifende Befunde, die zeigen, dass insbesondere die Aktivierung negativer, schmerzlicher Emotionen im Behandlungsprozess mit späterem Behandlungserfolg assoziiert ist. Die Aktivierung intensiver negativer Emotionen scheint mit einer vorübergehenden Destabilisierung verknüpft zu sein, und es finden sich deutliche Hinweise, dass sowohl die Aktivierung spezifischer relevanter Emotionen in den Sitzungen als auch die kognitive Erkundung und Bearbeitung der Bedeutung dieser Emotionen für therapeutische Veränderungen wichtig sind. Als Folge steigt im Verlauf von erfolgreichen Behandlungen das Level des Emotional Experiencing bzw. des Emotional Processing deutlich an, was mit einer Reduzierung der Symptomatik einhergeht (Studienübersicht in Benecke 2014). Eine aktuelle Übersicht zeigt, dass Verbesserungen der ER verfahrensübergreifend mit symptomatischer Verbesserung zusammenhängen (Sloan et al. 2017), wobei die Veränderungen in der ER den Symptomverbesserungen vorausgehen (Radkovsky et al. 2014). Da diese Zusammenhänge verfahrensübergreifend zu finden sind, scheint es so zu sein, dass erfolgreiche Psychotherapien, unabhängig von der „Schulenzugehörigkeit“, zu einer verbesserten ER führen, was dann eine Symptomreduktion mit sich bringt. Damit kann die ER auch als Mechanismus für Veränderung verstanden werden.

4.2 Arbeit an der ER als gemeinsamer Nenner verschiedener Verfahren?

Im Folgenden soll Psychotherapie auf der Basis der oben dargestellten Modelle und Forschungsbefunde unter ER-Perspektive betrachtet werden: Welche Methoden und Techniken wurden innerhalb der verschiedenen Psychotherapieverfahren entwickelt, um diese „ER-Veränderungsziele“ zu erreichen? 

Es sollen also die verschiedenen Psychotherapieverfahren und deren „charakteristische Techniken“ unter dem Gesichtspunkt der Arbeit an der ER betrachtet werden.

Aus den oben referierten Befunden, die die zentrale Bedeutung der ER für psychische Störungen bzw. psychische Gesundheit zeigen, ergibt sich als ein Behandlungsziel aller Psychotherapieverfahren die Förderung und Verankerung „adaptiver“ bzw. funktionaler ER-Strategien. Eine flexible und situationsangemessene ER kann eine „gut“ gelingende ER ermöglichen und darüber hinaus zur weiteren Entwicklung in Richtung hohes „Level“ im Sinne der DERS, der OPD, der mentalisierten Affektivität beitragen.

Techniken der Problemaktualisierung

Als ein wichtiger Aspekt erfolgreicher Psychotherapie hat sich die Problemaktualisierung erwiesen (Grawe 1995a, b) – sie gilt als eine der vier therapieschulenübergreifenden Wirkfaktoren von Psychotherapie. Problemaktualisierung im Sinne der ER-Perspektive bedeutet erst einmal die Aktivierung schwieriger Affekte. Üblicherweise führt schon das Erzählen schwieriger Situationen (ob aktueller oder vergangener) zur Aktivierung der mit diesen Episoden verknüpften Emotionen. Im Falle von Patienten mit psychischen Störungen sind dies oftmals sehr schmerzliche Emotionen, wie Angst, Trauer, Scham, Schuld, Hilflosigkeit, Einsamkeit, aber auch Wut oder Ekel, die im Falle ihrer Aktivierung die bisher für diesen Patienten „üblichen“ ER-Strategien auf den Plan rufen.

Die forcierteste Methode zur Problemaktualisierung ist wohl die Exposition, eine psychotherapeutische Intervention aus der Verhaltenstherapie, in deren Rahmen sowohl motorische als auch kognitive Vermeidungsreaktionen verhindert werden, nicht aber die emotionalen und physiologischen Reaktionen (Neudeck und Wittchen 2012). Zentraler Mechanismus ist dabei die Konfrontation mit angstauslösenden Reizen, wobei die Anwendung der bisherigen ER (Vermeidung) kontrolliert wird – was zu einer massiven Affektaktivierung führt. Ein klassisches Beispiel wäre die Behandlung einer spezifischen Phobie wie Höhenangst.

In den psychodynamischen Verfahren wird mit Übertragungsphänomenen gearbeitet, infolgedessen werden alte – oftmals verdrängte – Gefühle, Affekte, Erwartungen (insbesondere Rollenerwartungen), Wünsche und Befürchtungen aus der Kindheit unbewusst auf neue soziale Beziehungen übertragen und reaktiviert (Mentzos 2013; Rudolf 2011; Wöller und Kruse 2004). Der Patient richtet bestimmte Gefühle, Erwartungen oder Wünsche auf seinen Therapeuten, die nicht so sehr dem Therapeuten als Person gelten, sondern als Gefühle eigentlich aus seinen früheren Beziehungserfahrungen herrühren. Demzufolge wird „die innere Welt bedeutsamer Beziehungen“ in die Beziehung zum Therapeuten übertragen und birgt damit die Chance, die Erlebnisweisen des Patienten zu erfassen. So können Übertragungsphänomene ebenfalls eine Problemaktualisierung darstellen.

Weitere Techniken der Problemaktualisierung aus anderen psychotherapeutischen Verfahren ist zum einen der „hot seat“ der Gestalttherapie (Abram 2013). Bei der Stuhlarbeit werden symbolisch für Personen, Themen oder eigene innere Anteile Stühle aufgestellt, sodass damit dann gearbeitet werden kann. Auch im Rahmen der kognitiven Therapie wird empfohlen, vorrangig den „hot thought“, also den Gedanken, der die intensivsten Gefühle hervorruft, zu bearbeiten. Auch durch Imaginationsübungen können Emotionen hervorgerufen oder heftige Gefühle reguliert werden. So besteht das Gemeinsame von zentralen Techniken in der Behandlung von Traumafolgestörungen, Beobachtertechnik, Bildschirmtechnik oder EMDR (Hoffmann 2004; Reddemann 2011; Sachsse 2004), darin, dass sie eine kontrollierte Annäherung an die belastenden traumabezogenen Erinnerungen und die damit verknüpften unerträglichen Affekte ermöglichen, bei gleichzeitig starkem Gegenwartsbezug und der Vermittlung von Affektregulierungstechniken (Benecke 2018a).

Wahrnehmen, Differenzieren und „Aushalten“ von Affekten

Des Weiteren geht es darum, die bisher durch dysfunktionale ER-Strategien in Schach gehaltenen Emotionen bewusster und differenzierter wahrzunehmen. Patienten wollen oder können genau dies oft nicht.

Ein genaueres Wahrnehmen und Differenzieren von schwierigen Affekten ist üblicherweise verbunden mit einer Steigerung der Intensität eben dieser schwierigen Affekte, was wiederum mit einem erhöhten Risiko einhergeht, die alten ER-Strategien auf den Plan zu rufen. Eine erfolgreiche Therapie bringt den Patienten dazu, diese schwierigen Emotionen ins Erleben zu bringen und sie dort psychisch zu „halten“, anstatt diese Gefühle (z. B. durch eine dysfunktionale ER) „wegzumachen“. Es wurden unterschiedliche Konzepte in verschiedenen therapeutischen Schulen entwickelt, die diesen Prozess begrifflich fassen: die altehrwürdige „emotionale Einsicht“ (Hohage 1990), die „mentalisierte Affektivität“ (Fonagy et al. 2004), „detached mindfulness“ (Wells 2011) oder „emotional experiencing“ (Bommert und Dahlhoff 1978), um nur die bekanntesten zu nennen. All diesen Konzepten gemeinsam ist, dass eben dieser Prozess als zentral für die therapeutische Veränderung gesehen wird: die Entwicklung eines Zugangs zu (vormals abgewehrten/vermiedenen, meist unbewussten und schmerzlichen) Affekten sowie die Entwicklung der Fähigkeit, diese Affekte psychisch im Erleben zu „halten“.

Klären und Verstehen – Emotionen und bisheriger ER einen Sinn geben

Weiterhin notwendig für ein tieferes emotionales Verstehen ist es, aktuelle situative Auslöser von Emotionen therapeutisch herauszuarbeiten. Verhaltenstherapeutisch wird dies sehr fundiert durch das SORKC-Schema gemacht, das in standardisierter Weise äußere Auslöser und darauffolgende Reaktionen auf emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene analysiert.

Auch in den psychodynamischen Verfahren liegt ein Schwerpunkt darin, unter Zuhilfenahme biografischer Bezüge die „Herkunft“ der individuellen Neigung, mit bestimmten Emotionen zu reagieren, herauszuarbeiten, um so zu einem vertieften Verstehen von sich und seinen Gefühlszuständen zu gelangen. Auf dieser Basis sollen auch der emotionale Umgang und die (maladaptive) Funktionalität bisheriger ER herausgearbeitet werden.

Etablierung „funktionaler ER-Strategien“

Letztlich sollen mithilfe der gesteigerten Fähigkeit zur Wahrnehmung und Differenzierung von Emotionen funktionalere Regulationsmechanismen etabliert werden. Hier finden sich wahrscheinlich die größten Unterschiede zwischen den Verfahren: In welchem Ausmaß werden explizit funktionalere ER-Strategien eingeführt, vorgeschlagen, geübt? Oder eben darauf vertraut, dass sich „das System“ Patient hier schon weise genug zeigen wird?

Es macht den Eindruck, dass die meisten Therapieschulen sehr genau und gut daran arbeiten, dysfunktionale ER zu erkennen und deren Einsatz zu problematisieren bzw. zu „verhindern“. Im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Exposition sollen Vermeidungsreaktionen verhindert werden, wobei bei Nichtgelingen der Expositionsübungen eine Störfallanalyse durchzuführen ist (Neudeck und Wittchen 2012). Analog hierzu erfolgt in der Psychodynamik eine Widerstandsanalyse, wenn bewusste wie unbewusste Widerstände im Therapieprozess auftreten, die sich dem Erreichen der Therapieziele entgegensetzen (Rudolf 2011). Durch Klarifizierung und Konfrontation sollen dem Patienten diese Widerstände bewusst gemacht werden, damit der Prozess produktiv fortgesetzt werden kann. Aber nur wenige der formulierten Behandlungsstrategien beziehen sich explizit auf das Implementieren oder die Etablierung von funktionaleren ER-Strategien.

Im kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatz kann der sokratische Dialog als eine Übung in Reappraisal (Neuinterpretation/Umbewertung) verstanden werden, indem der Therapeut interessiert und verständnisbetont die Einstellungen und Haltungen des Patienten hinterfragt, wodurch eine Änderung dieser erwirkt werden soll. Eine weitere verhaltenstherapeutische Strategie ist das Aufgeben von „Hausaufgaben“, das die Patienten anregen soll, zwischen den Therapiesitzungen die in der Sitzung neu gelernten ER-Strategien einzuüben. Das strukturierte Skills-Training, das Marsha M. Linehans Dialektisch-Behavioraler Therapie (DBT) für schwer beeinträchtigte Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt, bietet je nach Intensität der Stresstoleranz einen „Notfallkoffer“ (Linehan 1996). So soll es Patienten z. B. in extremen Anspannungszuständen möglicher werden, alternative – statt selbstschädigende – Verhaltensweisen anzuwenden, um sich selbst zu regulieren. Als Beispiel für gruppentherapeutische Programme kann das Acht-Wochen-Programm zur ER, „Gefühle im Griff“ (Barnow et al. 2016), genannt werden, bei dem systematisch „funktionale“ ER-Strategien kennengelernt und eingeübt werden sollen. Hier ist auch das Behandlungsmodul „Training emotionaler Kompetenzen“ von Matthias Berking zu erwähnen, das in einem gesonderten Beitrag in diesem Handbuch vertieft dargestellt wird.

Die psychodynamische Psychotherapie arbeitet (eher implizit) an einer Stärkung der Akzeptanz des emotionalen Erlebens, wodurch bisherige dysfunktionale ER-Strategien überflüssig werden, sowie an der Entwicklung höherer ER-Levels, z. B. im Sinne der DERS, der OPD, der emotionalen Einsicht, der mentalisierten Affektivität.

Die therapeutische Beziehung unter ER-Perspektive

Laut Wampold (2015) ist die therapeutische Beziehung einer der wichtigsten Wirkfaktoren für Psychotherapie. Die empirische Evidenz bezieht sich dabei im Wesentlichen auf die so genannte Alliance oder Arbeitsbeziehung, wie sie beispielsweise Bordin (1979) definiert hat. Während an dem Zusammenhang zwischen therapeutischer Arbeitsbeziehung und dem Behandlungsergebnis kein Zweifel besteht (siehe auch die aktuelle Metaanalyse von Flückiger et al. 2018), ist die spezifische Wirkung der Alliance ungeklärt. Abgesehen davon existieren sehr unterschiedliche Konzepte einer hilfreichen therapeutischen Beziehung. Grob können drei Grundkonzepte unterschieden werden (Benecke 2016):

  1. 1.

    Therapiebeziehung als Arbeitsbündnis und damit als notwendige Voraussetzung dafür, dass sich der Patient auf die Behandlung einlässt.

  2. 2.

    Therapiebeziehung als Instrument: Die vom Therapeuten mitgestaltete Beziehung ist ein Wirkfaktor per se.

  3. 3.

    Reflektierende und/oder deutende Bearbeitung der therapeutischen Beziehung.

Alle drei Beziehungskonzepte und deren Unterformen weisen klare Bezüge zu emotionalen Prozessen auf. Inwiefern welche dieser „Nutzungsarten“ zu einer verbesserten ER beiträgt, ist bisher aber völlig ungeklärt.

4.3 Wie wichtig ist die Emotionsregulations- kompetenz der Therapeuten?

Psychotherapeuten erleben vielfältige Emotionen gegenüber ihren Patienten. Der Umgang mit diesen Emotionen wurde sehr unterschiedlich konzeptualisiert:

  • Emotionen von Therapeuten sind „Störfaktoren“, behindern die therapeutische Arbeit und sollten daher überwunden oder zumindest relativiert werden (z. B. Freud 1910; Beck et al. 1999).

  • Emotionen von Therapeuten sind diagnostische Hilfsmittel, sie können Hinweise auf die unbewussten Beziehungsmuster, Konflikte, Repräsentanzen und strukturellen Vulnerabilitäten des Patienten geben (z. B. Heimann 1950; Thomä und Kächele 2006).

  • Die psychische Verarbeitung der im Therapeuten ausgelösten Emotionen hat eine veränderungswirksame Funktion (z. B. Ogden 1988; Benecke 2018a).

  • Vom Therapeuten im Kontakt mit dem Patienten erlebte Emotionen können/sollen dem Patienten gegenüber selektiv, aber authentisch ausgedrückt werden (z. B. Rogers 1987; Heigl-Evers und Ott 2002; McCullough 2011; Brakemeier und Normann 2012).

Einigkeit besteht darin, dass die im Kontakt mit den Patienten beim Therapeuten auftretenden Emotionen und Handlungsimpulse nicht ungefiltert in die therapeutische Interaktion „eingebracht“ werden sollen.

Innerhalb psychodynamischer Therapieverfahren wird seit Freud auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass Therapeuten ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf den Patienten regulieren können. Solche Reaktionen werden in diesem Kontext als „Gegenübertragung“ bezeichnet.Footnote 2 Als Gegenübertragung werden innerpsychische Reaktionen (wie Emotionen, Fantasien und Handlungsimpulse) des Therapeuten auf den Patienten verstanden. Die sogenannte Gegenübertragungsanalyse dient dazu, sich dieser meist erst einmal unbewussten inneren Reaktionen bewusst zu werden und zu verhindern, dass sie ungefiltert die Interaktion mit dem Patienten beeinflussen. Der Bearbeitung der Gegenübertragung wird auch eine direktere veränderungswirksame Funktion zugeschrieben, dergestalt, dass der Patient (bzw. sein Unbewusstes) die Erfahrung macht, dass seine für ihn selbst nicht aushaltbaren (und daher im Therapeuten „untergebrachten“) Affekte vom Therapeuten psychisch verarbeitet („verdaut“) werden können (Ogden 1988).

Seit einigen Jahren wird die Gegenübertragung auch in der kognitiven Verhaltenstherapie berücksichtigt. Beck et al. (1999) beispielsweise beschreiben typische kognitive und emotionale Reaktionen der Therapeuten auf Patienten mit spezifischen Persönlichkeitsstörungen. So stellen sich in der Behandlung beispielsweise von Patienten mit selbstunsicher-vermeidender Persönlichkeitsstörung aufgrund deren typischen Verhaltensweisen wiederum typische Kognitionen beim Therapeuten ein, die dann häufig zu Gefühlen von Hilf- und Hoffnungslosigkeit führen. Wilken (2002) empfiehlt die Bearbeitung der eigenen „emotionalen Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten (wie Enttäuschung, Ungeduld, Wut, Angst etc.)“ mittels auf sich selbst angewandter ABC-Technik. Die „Gegenübertragungsgefühle“ werden in der KVT also nicht genutzt, um etwas von der Innenwelt der Patienten zu verstehen, sondern sie werden (ähnlich der Sicht des frühen Freud) als etwas Störendes betrachtet, was den Therapeuten und die Behandlung stark beeinträchtigen kann, und entsprechend sollen sie möglichst überwunden oder zumindest relativiert werden.

In der Metaanalyse von Hayes et al. (2011) zeigte sich, dass hohe negative Gegenübertragung mit schlechten Therapieergebnissen einherging, während Gegenübertragungsmanaging mit guten Behandlungsergebnissen korrelierte. Letzteres kann immerhin als Hinweis darauf gelten, dass die Fähigkeit der Therapeuten, ihre eigenen Emotionen gegenüber den Patienten in der therapeutischen Situation zu regulieren, von Bedeutung ist.

Die Empfehlung zur selektiven, aber authentischen Mitteilung eigener Emotionen gegenüber dem Patienten wurde innerhalb verschiedener Behandlungsmodelle ausgesprochen, z. B. in der Gesprächspsychotherapie (Eckert et al. 2012), der psychodynamischen Therapie (Heigl-Evers und Ott 2002; Wöller und Kruse 2005), den neueren kognitiven Verhaltenstherapien (z. B. Brakemeier und Normann 2012), üblicherweise, um eine authentische Beziehung zu fördern und um den Patienten eine „Rückmeldung“ darüber zu ermöglichen, was sie bei anderen auslösen. Die empirische Befundlage zur „Selbstöffnung“ ist sehr inkonsistent, legt aber nahe, dass die Mitteilung eigener Emotionen der Therapeuten insbesondere bei Patienten mit schweren Störungen eher kontraindiziert ist (Henretty und Levitt 2010).

Fazit II: Arbeit an der ER als „common factor“ erfolgreicher Psychotherapien

Zusammenfassend lässt sich aus den zusammengetragenen empirischen Befunden und klinischen Konzepten ableiten, dass als zentraler Wirkprozess von Psychotherapie die wiederholte Aktivierung der bisher als nicht bewältigbar erfahrenen und daher abgewehrten/vermiedenen Affekte bei gleichzeitiger reflexiver Verarbeitung dieser sowie die Entwicklung „adaptiverer“ ER-Strategien gesehen werden können. Dabei ist auf die individuelle Verarbeitungskapazität zu achten: Einerseits müssen die schmerzlichen und/oder problematischen Affektzustände hinreichend aktiviert werden, andererseits dürfen sie aber auch nicht erneut die Verarbeitungskapazität übersteigen. Überwiegend geht es letztlich oft um Zustände von intensiver Angst, Scham, Schuld, Hilflosigkeit und Ohnmacht, die mit vergangenen Erfahrungen verknüpft sind. Wichtig ist aber zu betonen, dass es in der Behandlung nicht um „alte“ Gefühle oder „alte“ Wünsche geht (auch wenn es klinisch-praktisch sinnvoll ist, diese manchmal dem Patienten gegenüber so zu bezeichnen) – entscheidend ist das aktuelle affektive Erleben im Hier und Jetzt.

Zentrale Elemente therapeutischen Handelns, die diesen Prozess fördern (vgl. Benecke 2018a, b):

  • Fokussierung auf das (besser: Einladen zum) Erleben bisher vermiedener/abgewehrter Emotionen,

  • Schaffung eines „mentalen Raumes“, um bei Aktivierung negativer Emotionen neue Regulationsprozesse etablieren zu können,

  • Unterstreichen der (maladaptiven) Funktionalität symptomwertigen Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf die Regulation „schwieriger“ Emotionen.

„Fokussierung“ meint dabei nicht, dass Therapeuten in ihren verbalsprachlichen Interventionen beständig auf Gefühle Bezug nehmen oder diese gar fortwährend benennen. Gemeint ist eher eine Wahrnehmungseinstellung, die sich einerseits für alle Äußerungen (verbale und nonverbale) des Patienten offenhält, die aber gleichzeitig wie beständig auf der empathischen Suche nach den abgewehrten/vermiedenen Wünschen, Fantasien und Affekten ist, verbunden mit einem geduldigen und behutsamen Hinlenken oder besser Einladen des Patienten, sich mit den unbewussten und meist schmerzlichen Affekten auseinanderzusetzen.

Zukünftige Studien sollten versuchen zu klären, welche therapeutischen Komponenten (Techniken, Beziehungsqualitäten etc.) zu einer Verbesserung der ER beitragen und ob eine gezieltere Etablierung von spezifischen ER-Strategien therapeutische Vorteile erbringt oder ob sich ER ebenso erfolgreich durch eine eher implizite Bearbeitung verändert.

Auf jeden Fall scheint eine ER-Perspektive das Potenzial zu haben, einen fruchtbaren Dialog zwischen unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätzen zu fördern.