Zusammenfassung
Wissenschaft, Professionen und Politik in ihrer Vermitteltheit aufzuschlüsseln, um Grundlegungen, Perspektiven wie Grenzen sozialer Praxen bestimmen zu können, ist in den Konstellationen, die für Soziale Arbeit, insbesondere eine kritische, relevant sind, besonders bedeutsam. Dabei gilt es, sich zur Selbstvergewisserung einer wesentlichen Überlegung Bourdieus zu bedienen bzw. ihr zu folgen, wenn er herausstellt, es gelte, „die der Freiheit, d. h. dem politischen Handeln verbliebenen Spielräume voll auszuschöpfen“ – dies vor allem in Bezug auf intellektuelle wie wissenschaftliche Redlichkeit – um „die kollektiv verdunkelte gesellschaftliche Bedingtheit des Elends in all seinen auch noch so intimen und noch so geheimen Formen zu Bewusstsein“ (ebd.) zu bringen. Es gebe nämlich „entgegen allem Anschein nichts Hoffungsloses an sich: was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit einem solchen Wissen gerüstet auch wieder abschaffen.
Erschienen in: Politik, Sozialpolitik und Soziale Arbeit, zs. mit Heinz Sünker, in: Closs, P./Lochner, B./Schoneville, H. (Hrsg.): Soziale Arbeit als Projekt – Festschrift für Werner Thole, Wiesbaden (VS-Verlag), S. 13–24.
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Notes
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Damit folgt Bourdieu – zumindest implizit – einer Tradition, wie sie von Horkheimer in seinem Text aus dem Jahr 1937 „Traditionelle und kritische Theorie“ vorgebildet wurde: Zur „Herstellung eines gerechten Zustands unter den Menschen“ (Horkheimer o. J./1937, S. 191), was nur als „Transformation des gesellschaftlichen Ganzen“ (o. J., S. 168) gedacht werden könne, um eine vernünftige und damit solidarische Gesellschaft zu errichten, gehe es darum, die philosophische Bescheidung auf eine „Trennung von Denken und Handeln“ (o. J., S. 190) zu überwinden, da dies in einer kapitalistischen klassenstrukturierten Gesellschaft den Verzicht auf „Humanität“ bedeute (ebd.).
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Insbesondere vor diesem Hintergrund ist es analytisch zu kurz gegriffen und allen reformerischen Bemühungen zum Trotz unzureichend, wenn Atkinson (2016) zur Bekämpfung von Ungleichheit u. a. auf einen Spitzensteuersatz von 65 %, Grund- und Vermögenssteuer sowie ein staatlich finanziertes Mindesterbe aller setzt. Es bleibt ein Verteilungsproblem, die Grundfrage des kapitalistischen Eigentums an Produktionsmitteln wird nicht angegangen. Damit wird auch die Demokratiefrage als die nach dem – antagonistisch zu bestimmenden – Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus (Sünker 2017a, b) nicht behandelt.
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Ob dies, wie von Wallerstein et al. dort in diesem Zusammenhang genannt, als „Demokratisierung“ bestimmbar ist, wäre gesondert zu diskutieren.
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Zu den bedrohlichen Alternativen der Gesellschaftsentwicklung in den nächsten 50 Jahren s. Wallerstein et al. (2014, S. 228).
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„Man muss sich jedoch klarmachen oder dessen bewusst bleiben, dass soziale Ungleichheit - … - streng genommen ein Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung darstellt. Deshalb bleibt sie ein Resultat der Überschneidung der drei systematisch vorgeordneten Dimensionen (Wirtschaft, Herrschaft und Kultur, d. Aut.)“ (Wehler 1987, S. 11).
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Entscheidend für diese sozialtheoretisch wie gesellschaftspolitische Perspektive von Vergesellschaftung ist dabei, dass „Gleichheit“ eben nicht in „Gleichmacherei“, also dem, was ob der Uniformität des Konsumkapitalismus – bei scheinhafter Differenz – herrscht, aufgeht! Wesentlich ist hier das, was Heine in seiner Kritik am Babouvismus formuliert: Es gehe nicht um „eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde“ (Heine 1972/1842, S. 433; Kreutzer 1970; Sünker 2019).
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Braches-Chyrek, R., Sünker, H. (2024). Politik, Sozialpolitik und Soziale Arbeit. In: Soziale Arbeit in guter Gesellschaft. Kritische Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43371-0_7
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