Zusammenfassung
Als Medikalisierung werden Praktiken kritisiert, die gesellschaftliche Konflikte den Deutungs- und Handlungsweisen der Medizin überantworten. Ein Beispiel dafür sind Pathologisierungen von Kindern im Zusammenhang mit der Diagnosekategorie „AD(H)S“. In dem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Forderung nach „Inklusion“ Medikalisierungsprozessen Einhalt gebieten kann. In dem Maße, wie die Forderung nach „Inklusion“ zu einer umfassenden gesellschaftspolitischen Utopie avancierte, wurde auch die Kurzgriffigkeit des Konzepts offengelegt und vehement kritisiert. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass diese Kritik zwar mitunter überspannt, im Kern aber zutreffend ist und die Forderung nach „Inklusion“ Medikalisierungen sogar Vorschub leisten kann. Als Alternative wird für eine konsequent sinnverstehende Lebensweltorientierung als utopische Leitidee für die Profession Soziale Arbeit plädiert. .
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Notes
- 1.
Gemäß dem BARMER GEK Arzneimittelreport für 2013 (Glaeske & Schicktanz 2013, S. 165) sind 48 % der Fälle von entsprechenden Verordnungen betroffen, an zweiter Stelle stehen „Störungen des Sozialverhaltens“ mit 29,3 % der diagnostizierten Fälle.
- 2.
Siehe hierzu die S. 3-Leitlinie für AD(H)S (AWMF 2017).
- 3.
Vgl. die deutschsprachige Fassung der Definition von Sozialer Arbeit der IFSW des DBSH auf https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html.
- 4.
Siehe dazu etwa den eindrücklichen Dokumentarfilm „Nicht alles schlucken“ von Jana Kalms und Piet Scholz (2015), www.nichtallesschlucken.de, DVD beziehbar über den Psychiatrie-Verlag.
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Friele, B. (2023). Schwächen des Inklusionsbegriffs im Licht von Medikalisierungsprozessen. In: Friele, B., et al. Soziale Arbeit und gesellschaftliche Transformation zwischen Exklusion und Inklusion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41471-9_28
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