Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag nimmt eine Unterrichtsstunde im Fach Praktische Philosophie zum Anlass, um die unterrichtliche Thematisierung von ableistischer „Differenz unter Bedingungen von Differenz“ in Perspektive einer rekonstruktiven Fachdidaktik fallspezifisch zu rekonstruieren. Mit Blick auf das Thema der Stunde „Behinderung“ wird ersichtlich, wie die unterrichtlichen Praktiken in diskursive Fähigkeitsordnungen eingebettet sind, wie sie die darin eingelagerten Differenzdiskurse iterieren und damit drittens die Bedeutsamkeit von fähigkeitsbezogener Differenz praktisch hervorgebracht wird.
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Notes
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Das empirische Material gehört zu einem Datenkorpus, das im Rahmen einer Forschungskooperation zum Thema „Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht“ zwischen der Philosophiedidaktik an der Universität Duisburg-Essen, dem am dortigen Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache angesiedelten Projekt ProDaZ sowie dem Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) erhoben wurde (Albus et al. 2017). Die vorliegende Unterrichtsstunde ist bislang weder in diesem noch einem anderen Zusammenhang rekonstruiert worden.
- 2.
So sollen sich Schüler*innen etwa „Die Frage nach dem Anderen“ (KLP Sek. I Praktische Philosophie NRW, S. 33) stellen. ‚Der*die Andere‘ tritt dabei als durch Differenz(en) Markierte(r) in Erscheinung, den*die es ‚kennenzulernen‘ gilt. Zur Analyse differenzpädagogischer Programme siehe Emmerich und Hormel 2013.
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Für den Zusammenhang diskursiver Praktiken vgl. etwa Bublitz 2003, S. 46 ff.
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In deutschsprachigen Veröffentlichungen der letzten zwei Dekaden (überblickend Waldschmidt und Schneider 2007; Dederich 2007; Waldschmidt 2020 oder Brehme et al. 2020) werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet. Die hier gewählte Schreibweise mit Asterisk (*) soll den graduellen Charakter deutlich machen, mit dem Dis*ability zugeschrieben werden kann. Den Gradmesser dafür stellt die jeweilige Klassifikation dar, auf die fallspezifisch zurückgegriffen wird.
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Siehe hierzu auch die Beiträge von Buchner sowie von Petrik und Pokitsch in diesem Band.
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Zugleich sind beeinträchtigte Personen (auf-)gefordert, sich selbst aktiv und affirmativ in den Behinderungsdiskurs einzuschreiben, um z. B. auf dem Arbeitsmarkt, im Sport usf. gewisse Rechte und Sonderregelungen für „Menschen mit Behinderung“ überhaupt erst in Anspruch nehmen zu können.
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Für eine diskursanalytisch ausgerichtete erziehungswissenschaftliche Forschung kann auf die wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) nach Reiner Keller (2008) zurückgegriffen werden. Für eine Systematisierung unterschiedlicher qualitativ-empirischer Zugänge und damit einhergehender Konstitutionen von Unterricht als pädagogische Form vgl. Geier & Pollmanns (2016).
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Zum Wortlaut der Hausaufgabenstellung aus der vorangegangenen Stunde liegen Fotografien von Hefteinträgen einiger Schüler*innen vor. Mehrheitlich zeigen die Texte ihre Versuche, ‚Behinderung‘ zu definieren (kritisch Schillmeier 2007), indem sie deren Qualitäten entweder eher abstrakt umschreiben oder aber beispielbezogen konkretisieren. Dazu hatten sie sich unterschiedliche Fragen notiert, z. B.: „Was ist (eine) Behinderung?“, „Wann kann Behinderung sein?“ oder „Behinderung – Wann? Wie?“.
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Es bezieht sich auf eine vorherige Äußerung von S14, der*die davon berichtete, im Fernsehen ein Mädchen gesehen zu haben, das ein Hörgerät getragen und deshalb „immer geweint“ habe.
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Vgl. aktuell dazu die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion in der Schule“ in NRW. Ihnen zufolge müssen Gymnasien sich nicht länger verpflichten, sondern können darüber entscheiden, ob sie bezüglich ihrer Schüler*innen mit sog. sonderpädagogischem Förderbedarf eine „zieldifferente Förderung (weiterhin) ermöglichen wollen“ (https://www.schulministerium.nrw/themen/schulsystem/inklusion/eckpunkte-zur-neuausrichtung-der-inklusion-der-schule). Damit ist eine Entscheidungsgrundlage dafür gegeben, an ableistisch relevante Ordnungen anzuschließen (vgl. Abschn. 2).
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Büttner, D., Frank, M., Geier, T. (2022). „Behinderung“ als Thema von Unterricht. Eine rekonstruktive Fallstudie zur (De-)Konstruktion von Dis*ability. In: Akbaba, Y., Buchner, T., Heinemann, A.M., Pokitsch, D., Thoma, N. (eds) Lehren und Lernen in Differenzverhältnissen . Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37328-3_6
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