Zusammenfassung
In dem Beitrag wird zunächst konstatiert, dass eine zentrale Frage der Wirkungsforschung derzeit weitgehend beantwortet ist: Inhaftierungen wirken im Vergleich zu alternativen Maßnahmen nicht rückfallverhindernd, sondern eher rückfallfördernd. Dies macht weitere Forschungen allerdings nicht unnötig. Im Gegenteil plädieren wir für eine grundlagenorientierte Forschung, die das Gefängnis als gesellschaftlich situierte und zugleich in sich geschlossene Institution versteht. Es sollten heterogene Forschungsmethoden genutzt und ein breites Spektrum möglicher Folgen anvisiert werden, um – wozu speziell in Deutschland hoher Bedarf besteht – weiter darüber aufzuklären, wie Folgen von Inhaftierungen als interaktive Leistungen in jeweils besonderen kontextuellen und situativen Bedingungen hervorgebracht werden. Auf einer entsprechenden Basis und in enger Interaktion mit ihr können spezielle Wirkungsfragen fundiert und ethisch vertretbar beantwortet werden.
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Notes
- 1.
Der von uns genutzte Folgenbegriff geht von anderen Prämissen aus als das in kriminologischen Zusammenhängen vorrangig diskutierte Konzept der Wirkung: Er zielt nicht auf die Messung und Bewertung eindeutig operationalisierbarer Effekte ab, sondern ist breiter angelegt. Soziale Interventionen führen stets Konsequenzen mit sich; diese müssen nicht zwingend jenen entsprechen, die mit der jeweiligen Einflussnahme beabsichtigt sind. Interventionen sind – wie jegliche Form sozialer Handlung – insofern rezeptions- und deutungsoffen, als sie für unterschiedliche AkteurInnen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten je unterschiedliche Bedeutungen aufweisen können. Interventionen wirken nicht aus sich heraus, sondern sie verweisen auf Praktiken und Interpretationen von Subjekten. Diese komplexen Zusammenhänge zu erschließen, ist das Interesse einer primär an Erkenntnis ausgerichteten, normativ (zunächst) indifferenten und an der Konstitution von Folgen institutioneller Maßnahmen ausgerichteten Grundlagenforschung (vgl. Dollinger 2017; Dollinger et al., 2017).
- 2.
Dies kann etwa auf Etikettierungen verweisen, die eine verbüßte Haftstrafe nach sich zieht, dies ggf. verbunden mit Prozessen wie der Entwicklung eines ‚devianten‘ Selbstkonzeptes, Praktiken des sozialen (Selbst-)Ausschlusses und/ oder Einschränkungen von Lebenschancen (Bernburg 2019; s. a. Boers et al., 2014; Harding et al., 2014).
- 3.
Mitunter wird die Behauptung verfolgt, randomisierte Kontrollstudien (RCTs), wie sie die ,evidenzbasierte‘ Kriminologie postuliert, seien besser als andere Forschungsdesigns in der Lage, Wirkungen und die ihnen zugrunde liegenden Kausalitäten aufzuklären. Diese Einschätzung ist nicht unproblematisch, denn in RCTs wird die Frage, warum etwas wirkt, suspendiert und als „black box“ belassen (Pawson & Tilley, 1997; Sampson, 2010). Um Kausalitäten tatsächlich aufklären zu können, bedarf es umfangreicher, im besten Falle heterogen angelegter Forschungen sowie theoretischer Analysen.
- 4.
Die hiermit verbundenen wissenschaftstheoretischen, politischen und normativen Implikationen können wir an dieser Stelle nicht aufspannen. Lediglich genannt seien besondere „Wahlverwandtschaften“ und „Menschenbilder“ (Hess und Scheerer 2004, S. 87), die ein Verständnis dessen mit sich führen, was als ‚förderungs(un-)würdig‘ oder als ‚(un-)wissenschaftlich‘ zu gelten hat und folglich (nicht) beforscht werden kann. Dies tangiert auch die von den Landesjustizministerien mit der Beforschung des Gefängnisses bzw. der Regulierung entsprechender Forschungsmöglichkeiten betrauten Kriminologischen Dienste. So verweisen etwa Endres und Suhling (2019, S. 366) mit Blick auf begrenzte Personal- und Zeitkapazitäten auf die Notwendigkeit, vorrangig „ernsthaften Forscherinnen und Forscher[n]“ und „wichtige[n] Studien“ Zugänge einzuräumen.
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Dollinger, B., Schmidt, H. (2022). Was macht das Gefängnis? Perspektiven von Grundlagenforschung zum Strafvollzug und seinen Folgen. In: Wirth, W. (eds) Steuerung und Erfolgskontrolle im Strafvollzug. Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35620-0_16
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