Zusammenfassung
Die Wahrnehmungssituation infolge einer alterskorrelierten Sehbeeinträchtigung kann nicht mit der einer angeborenen Sehbeeinträchtigung verglichen werden. 70 oder mehr Jahre gesehen zu haben, bedeutet einerseits eine unendliche Fülle an Seh- und Handlungserfahrungen zu besitzen, welche das Handeln und die Orientierung auch in der immer noch visuell vorstellbaren Welt erleichtern können. Andererseits ist bekannt, dass viele Menschen nach einem alterskorrelierten Sehverlust nicht mehr an die über Jahrzehnte aufgebauten und bewährten Handlungsroutinen anknüpfen können und es ihnen darüber hinaus schwerfällt, einen anderen als einen visuell orientierten Zugang zu und Umgang mit der Welt zu entwickeln.
In diesem Beitrag werden wir uns auf der Grundlage der von uns durchgeführten ethnografischen Studie zur Wahrnehmungs- und Lebenssituation von Menschen mit alterskorrelierten Sehbeeinträchtigungen (Bender und Schnurnberger 2018) der Frage widmen, welche visuellen Wahrnehmungserfahrungen Menschen nach Sehverlust im Alter machen, welche Bedeutung den Seherinnerungen dabei zukommt und welche sozialen Erfahrungen sich an die je spezifischen Wahrnehmungssituationen anschließen. Im abschließenden Ausblick werden Ansatzpunkte für die Rehabilitationspraxis dargestellt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Für theorieinteressierte Leserinnen und Leser sei auf Bender und Schnurnberger (2018, S. 40 ff.) verwiesen.
- 2.
George Berkeley untersuchte den Zusammenhang zwischen Sehen und Tasten 1709 in seinem Versuch über eine neue Theorie des Sehens und kam zu dem Schluss, dass zwischen Tastwelt und Sehwelt kein notwendiger Zusammenhang besteht, dass ein Zusammenhang folglich nur auf der Grundlage der Erfahrung hergestellt werden kann (Berkeley 1987; Sacks 1995).
- 3.
- 4.
Vgl. hierzu auch die weiterführenden Ausführungen von Heussler & Seibl in diesem Band.
Literatur
ABSV (Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin). (2019). Sehbehinderungs-Simulator. https://www.absv.de/sehbehinderungs-simulator. Zugegriffen am 25.03.2019.
Bender, C., & Schnurnberger, M. (2015). Ethnographische Erkundungen zwischen Sehen und Nicht-Sehen im Kontext einer Studie zur Situation von Menschen mit Sehverlust im Alter. In R. Hitzler & M. Gothe (Hrsg.), Ethnographische Erkundungen. Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte (S. 103–127). Wiesbaden: Springer VS.
Bender, C., & Schnurnberger, M. (2018). Zwischen Sehen und Nicht-Sehen. Eine wahrnehmungs- und lebensweltanalytische Ethnographie zur Situation von Menschen mit Sehbeeinträchtigung im Alter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Berkeley, G. (1987). Versuch über eine neue Theorie des Sehens. Hamburg: Meiner.
von Foerster, H. (1993). Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt: Suhrkamp.
Hitzler, R. (2000). Die Erkundung des Feldes und die Deutung der Daten. Annäherungen an die (lebensweltliche) Ethnographie. In W. Lindner (Hrsg.), Ethnographische Methoden in der Jugendarbeit. Zugänge, Anregungen und Praxisbeispiele (S. 17–31). Opladen: Leske + Budrich.
Hitzler, R., & Gothe, M. (2015). Zur Einleitung. Methodologisch-methodische Aspekte ethnographischer Forschungsprojekte. In R. Hitzler & M. Gothe (Hrsg.), Ethnographische Erkundungen. Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte (S. 9–16). Wiesbaden: Springer VS.
Honer, A. (1993). Lebensweltliche Ethnographie: Ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
Honer, A., & Hitzler, R. (2015). Life-world-analytical ethnography: A phenomenology-based research approach. Journal of Contemporary Ethnography, 44(5), 544–562. https://doi.org/10.1177/0891241615588589.
Killer, H. (2016). Zwei Augen, ein Gehirn, drei Dimensionen. Jahrestagung der schweizerischen Neuropsychologen. Zürich, Mai 2016. In R. Walthes (2019), Entwicklung der visuellen Wahrnehmung. Frühförderung Interdisziplinär, 38(1), 26–29.
Kusenbach, M. (2008). Mitgehen als Methode – der „Go-Along“ in der phänomenologischen Forschungspraxis. In J. Raab, M. Pfadenhauer, P. Stegmaier, J. Dreher & B. Schnettler (Hrsg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen (S. 349–358). Wiesbaden: Springer VS.
Palágyi, M. (1925). Wahrnehmungslehre. Leipzig: Johann Ambrosius Barth.
Sacks, O. (1995). Eine Anthropologin auf dem Mars. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Sacks, O. (2013). Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Schütz, A., & Luckmann, T. (2003). Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK.
Soeffner, H.-G. (2004). Auslegung des Alltags – der Alltag der Auslegung: Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (2. Aufl.). Konstanz: UVK.
Soeffner, H.-G. (2012). Der Eigensinn der Sinne. In N. Schröer, V. Hinnenkamp, S. Kreher, & A. Poferl (Hrsg.), Lebenswelt und Ethnographie (S. 461–474). Essen: Oldib.
Teunisse, R. J., Cruysberg, J. R., Hoefnagels, W. H., Verbeek, A. L., & Zitman, F. G. (1996). Visual hallucinations in psychologically normal people: Charles Bonnet’s syndrome. The Lancet, 347, 794–797.
Walthes, R. (2003). Symptomatik, Ätiologie und Diagnostik bei Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmung. In A. Leonhardt & F. B. Wember (Hrsg.), Grundfragen der Sonderpädagogik (S. 349–375). Weinheim: Beltz.
Walthes, R. (2014). Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung (3. Aufl.). München: Reinhardt.
Walthes, R. (2019). Entwicklung der visuellen Wahrnehmung. Frühförderung Interdisziplinär, 38(1), 26–29.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2021 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Schnurnberger, M., Bender, C. (2021). Wahrnehmungs- und Lebenswelten aus der subjektiven Perspektive von Menschen mit Sehverlust im Alter verstehen. In: Lauber-Pohle, S., Seifert, A. (eds) Sehbeeinträchtigung im Alter. Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im Kontext Lebenslangen Lernens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32302-8_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-32302-8_3
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-32301-1
Online ISBN: 978-3-658-32302-8
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)