Zusammenfassung
Das Dilemma der ‚Reifikation‘ ist eine wesentliche Herausforderung qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis. Unter diesem Stichwort wird das Problem der Verdinglichung, (Re-)Produktion und Festschreibung von Phänomenen, insbesondere von Differenzkategorien, durch ebenjene Forschungspraxis diskutiert. Im Beitrag wird aus methodisch-methodologischer Perspektive nach Reifikation bei der Konzeption und Durchführung empirischer Forschungsvorhaben gefragt: Ausgehend von der Annahme einer Notwendigkeit von ‚Haltepunkten‘ wird Reifikation dazu entlang der Dimensionen Konstruktivität und Kontingenz sowie Kohärenz perspektiviert. Dabei werden Umgangsweisen mit dem Reifikationsdilemma anhand von vier eigenen Projekten erörtert.
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Notes
- 1.
Vgl. zur Forschungspraxis als Ort der Bearbeitung von Herausforderungen der Gegenstandskonstruktion auch Gabriel und Ludwig (2018), die letztlich Irritationen als konstitutiv für qualitative empirische Forschungsvorhaben skizzieren.
- 2.
Vgl. dazu grundlegend auch Kuhn und Neumann (2015), die am Beispiel der ethnographischen Migrationsforschung diskutieren, wie der und das ‚Andere‘ als Gegenstand ethnographischer Forschung entlang der Leitdifferenz Fremdheit/Vertrautheit zuallererst konstituiert werden muss, bevor die Analyse erfolgen kann.
- 3.
Vgl. dazu auch Deppe et al. 2018, die – ähnlich wie wir – in der Rekonstruktion und Reflexion von Herausforderungen der Forschungspraxis erkenntnisgenerierendes Potenzial vermuten und dies an verschiedenen Beispielen zeigen.
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Flugel, K., Schmid, E., Vetter, N., Wanka, A. (2021). Mehr als soziale Herkunft, Geschlecht und Alter? Methodisch-methodologische Überlegungen zur Reifikation in der qualitativen sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis. In: Gabriel, S., Kotzyba, K., Leinhos, P., Matthes, D., Meyer, K., Völcker, M. (eds) Soziale Differenz und Reifizierung. Studien zur Schul- und Bildungsforschung, vol 85. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31066-0_12
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