Zusammenfassung
Der Beitrag leuchtet sozialtheoretische Bestimmungen des Vergebens und Verzeihens einerseits und deren gesellschaftsstrukturelle Bedingtheiten andererseits aus und sucht einen Berührungspunkt zwischen sozialwissenschaftlicher Gedächtnis- und Vergebensforschung. Vergeben und Verzeihen widerspricht offenbar der elementaren Form der Sozialität, nämlich der Reziprozität. Darin enthalten sind die Momente der Korrektur und der Auflösung des Sozialen. Vergeben und Verzeihen entfaltet auf der Interaktionsebene vollständig seine Kraft und ist daher als sozialer Akt in Reinform erst in der funktional differenzierten modernen Gesellschaft ermöglicht, in der die Kommunikation auf der Interaktionsebene von jener der anderen Ebenen differenziert ist. Mit Vergeben oder Verzeihen wird reguliert, wie schlimme Ereignisse in der Zukunft (nicht) erinnert werden sollen, damit die Selbstblockierung eines Interaktionssystems aufgelöst, dessen Weiterbestehen eine neue Chance gegeben sowie der Modus der Interaktion etwa von „streitend“ zu „friedlich“ gewandelt wird.
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Morikawa, T. (2021). Vergeben und Verzeihen. Sozialtheoretische Bestimmungen und gesellschaftsstrukturelle Bedingungen. In: Berek, M., et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26593-9_111-1
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Vergeben und Verzeihen- Published:
- 31 January 2023
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-26593-9_111-2
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Original
Vergeben und Verzeihen. Sozialtheoretische Bestimmungen und gesellschaftsstrukturelle Bedingungen- Published:
- 02 June 2021
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-26593-9_111-1