Zusammenfassung
Trotz Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention vor dreißig Jahren diskutiert die deutsche Gesellschaft weiterhin über die Bedeutung von Kinderrechten und Kinderpolitik bis hin zu der Frage, ob die Rechte von Kindern als subjektive Rechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen. Parallel dazu entwickelt sich die Politik für Kinder schrittweise hin zu einer Politik mit und von Kindern (Partizipation).
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Notes
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Beck verortet die Freiheitsidee historisch im Aufklärungsdenken als dem Beginn der europäischen Moderne, verkörpert in der Idee der „Selbstautorisierung des Individuums“ – als Idee (!) gesetzt mit Allgemeinheitsanspruch (Beck 1997, S. 9–12).
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Während Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre, ausgelöst durch die Studentenbewegung, in der Folge bildungspolitischer Reformen und gesellschaftstheoretischer Diskussionen – einem Bündnis von Aufklärern und Modernisieren verpflichtet (von Friedeburg 1994) – auch in der Pädagogik und der Erziehungswissenschaft auf der Folie dieser Ideen und Ansätze emanzipatorisch, kritisch und subjektorientiert gedacht und gehandelt wurde, so sind heute wieder Tendenzen einer pädagogischen „Rückwärtsentwicklung“ (Wertediskussion, Grenzen der Erziehung etc.) zu konstatieren (vgl. Bueb 2006; Otto und Sünker 2009).
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In ihrer Zeitdiagnose zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, damit auch von Faschismus und Stalinismus, hat A. Siemsen beschrieben, es gelte zu verhindern, dass Menschen „der blinden Unterwerfung unter eine Staatsleitung, eine Partei oder einen Führer“ sich befleißigen (Siemsen 1948, S. 5).
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A. Siemsen hat bereits vor langer Zeit – in Übereinstimmung mit vielen Überlegungen der Kritischen Theorie – in ihrer Untersuchung „Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung“ als wesentlich für eine Analyse der Entwicklung in Europa herausgestellt: „Ich sehe die Ursache vielmehr darin, dass unser Bewusstsein ausschließlich technisch orientiert wurde, auf dem Gebiete der Naturbeherrschung und materiellen Technologie gewaltige Erfolge erzielte und dafür das Gebiet der gesellschaftlichen Beziehungen völlig vernachlässigte. Die objektive Folge davon ist der Zerfall und die chaotische Verwirrung unserer sozialen Verhältnisse gewesen, welche den Menschen zwar politisch emanzipierte, dafür aber sozial isolierte und einer Unsicherheit aussetzte, welche schwere Einsamkeits-, Angst- und Hasskomplexe entstehen ließ. (…) der ‚Kampf ums Dasein‘ wird für ihn der Konkurrenzkampf mit seinesgleichen, in welchem schließlich jedes Mittel recht ist. Bis endlich die Unerträglichkeit dieses Zustandes und dieser Bewusstseinshaltung zur Flucht verführt in irgendeine gesellschaftliche Bindung, sei es auch die der blinden Unterwerfung unter eine Staatsleitung, eine Partei oder einen Führer“ (Siemsen 1948, S. 5).
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Auf dieses Problem verweisen auch die Forschungsergebnisse von Vester et al.: „Entgegen den Annahmen von Anthony Giddens und Ulrich Beck sind es nicht die Milieus, die heute zerfallen. Die Klassenkulturen des Alltags sind vielmehr, gerade wegen ihrer Umstellungs- und Differenzierungsmöglichkeiten, außerordentlich stabil. Was erodiert, sind die Hegemonien bestimmter Parteien (und Fraktionen der Intellektuellen) in den gesellschaftspolitischen Lagern. Daher haben wir auch heute keine Krise der Milieus (als Folge des Wertewandels), sondern eine Krise der politischen Repräsentation (als Folge einer zunehmenden Distanz zwischen Eliten und Milieus)“ (Vester et al. 2001, S. 13; vgl. S. 58, S. 103).
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Mehrheitlich – und das verweist bereits auf Desiderata – beziehen sich Forschungen aus diesem Kontext auf Jugend, die Frage nach politischen Werten und Orientierungen, deren Konstitutionsbedingungen und Folgen für Bewusstsein und Handeln (vgl. Sünker 1996); Kinder kommen nur am Rande vor (vgl. exemplarisch Niemi und Jennings 1991) und wenn doch, fokussiert auf die Perspektive und Vermittlung schulischer politischer Sozialisation und/oder politischem Wissen (vgl. Deth et al. 2007).
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Sünker, H., Swiderek, T. (2022). Kinder, Politik und Kinderpolitik. In: Krüger, HH., Grunert, C., Ludwig, K. (eds) Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24777-5_41
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