Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht, wie sich in der Schweiz die Fachmittelschule neben Gymnasium und Berufsbildung als dritter Bildungsweg etablieren konnte. Fokussiert wird der Zeitraum der 1970er Jahre, als im Kontext von Koordinationsanforderungen bildungspolitisch eine gesamtschweizerische Lösung für die Vorgängerschulen gefordert wurde. Mit Bezug zur Soziologie der Konventionen werden Praktiken der Valorisierung in der Governance dieses Institutionalisierungsprozesses untersucht. Die Datenbasis bilden bildungspolitische Berichte. Die Analysen zeigen, dass mittels Generalisierung durch Verzicht auf kantonale Varianten entlang eines gemeinsamen Äquivalenzmaßstabs der neue Schultyp konstruiert wurde. Als Legitimationsprinzipien setzten die Akteure auf einen Kompromiss von staatsbürgerlicher und häuslicher Konvention, welcher sich im Kompromisssubjekt einer „reifen Persönlichkeit“ als Ausbildungsziel materialisierte.
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Notes
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Die Autorin und der Autor bedanken sich für hilfreiche Rückmeldungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes bei Urs Kiener, Kenneth Horvath und Philipp Gonon.
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Terminologie in der Schweiz für die berufliche Erstausbildung.
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Der Name der Schule verändert sich je nach Region – der Name in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz entspricht nicht einer einfachen Übersetzung des Namens in der Deutschschweiz – und historischem Zeitpunkt. Erst ab der eidgenössischen Anerkennung 1987/1988 wurde einheitlich von Diplommittelschule (DMS) gesprochen. Im Folgenden wird für den historischen Typ vor 1988 deshalb von „Töchterschulen/Diplommittelschulen“ gesprochen.
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Eigene Berechnungen auf der Basis der Statistischen Jahrbücher (Bundesamt für Statistik 1971, 1972).
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Eigene Berechnungen auf der Basis des statistischen Jahrbuchs (Bundesamt für Statistik 1951).
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Vor allem in historisch älteren Texten findet sich der Begriff der „Berufslehre“, der die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule meint.
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Der bildungspolitische Druck nach einer Ausweitung der Allgemeinbildung für leistungsstarke Auszubildende führte auch auf Seiten der Berufsbildung dazu, dass das Modell der Schule für mittlere Kader von den Akteuren der Berufsbildung in den folgenden Jahren mit der sogenannten „Berufsmittelschule“ umgesetzt wurde. Sie führten diesen neuen Schultyp jedoch nicht wie angedacht als dritten Bildungsweg ein, sondern als Möglichkeit der Erweiterung der schulischen Ausbildung innerhalb der Berufsausbildung im gewerblich-kaufmännisch-industriellen Bereich (Criblez 2002, S. 32 f.).
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Mit Dispositiv meinen wir die Instrumentierung, d. h. die Ausstattung der Situation der Koordination mit Kognitionen, In-Formationen, Regeln, Programmen, Verfahren, welche das kollektive Verfolgen eines Gemeinwohls ermöglichen und absichern. Zum Dispositiv-Konzept in der Soziologie der Konventionen siehe ausführlich Diaz-Bone (2017).
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Die Daten wurden im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell unterstützten Forschungsprojektes „Die Fachmittel-/Fachmaturitätsschule (FMS) als eigenständiger Bildungsweg neben Berufsbildung und Gymnasium – Prozesse und Ergebnisse ihrer Positionierung und Profilierung SNF-100.019_162.987“ erhoben (www.bildungssoziologie.ch/fachmittelschulen/).
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Als Vernehmlassung wird in der Schweiz eine vorbereitende Phase im Gesetzgebungsverfahren bezeichnet, im Rahmen derer die Kantone, die politischen Parteien und interessierte Kreise (u. a. Verbände) zur Stellungnahme zu einem Vorentwurf eingeladen werden.
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Gemeint ist das Gymnasium.
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Die Verkehrsschulen wurden später jedoch nicht in den dritten Bildungstyp integriert, sondern in einem ersten Schritt zur Berufsbildung verschoben und um das Jahr 2000 mit wenigen Ausnahmen geschlossen (Criblez 2012).
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Leemann, R.J., Imdorf, C. (2019). Praktiken der Valorisierung in der Educational Governance. Zur Institutionalisierung der Schweizer Fachmittelschule in den 1970er Jahren. In: Imdorf, C., Leemann, R., Gonon, P. (eds) Bildung und Konventionen. Soziologie der Konventionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23301-3_15
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