Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich dem Phänomen der visuellen Erinnerung an den Holocaust auf empirischer Ebene. Anhand von Gruppendiskussionen über einen visuellen Gesprächsanreiz wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die im kollektiven Gedächtnis tradierten Bilder, Zeichen und Symbole das Deuten und Wissen der Vergangenheit im sozialen Alltag prägen und beeinflussen. Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer Einzelfallanalyse vor, für die das Zusammenspiel von anthropologischer Vergangenheitsinterpretation, moralischer Verantwortungsübernahme für die Geschichte und Erinnerung wesentlich gewesen ist. Die Typik des Falls erlaubt dabei Einsichten in die besondere konsolidierende Wirk- und Bindungskraft des kollektiven Gedächtnisses.
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Notes
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Die dokumentarische Methode unterscheidet, wie bereits angesprochen, zwischen kommunikativ-generalisiertem und konjunktiv-implizitem Wissen. Ich betone diesen Aspekt, weil die dokumentarische Methode die visuelle Wahrnehmung – so auch die visuelle Erinnerung – maßgeblich dem impliziten Wissensbereich zuordnet. Bei der visuellen Wahrnehmung handelt es sich demzufolge weitestgehend um einen vorsprachlichen und vorbewussten Modus des Erkennens und daher um implizites Wissen (Bohnsack 2011: 29 f.). Der explizite Wissensbestand wird durch diese apriorische Festlegung dabei in den Hintergrund gedrängt.
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Statt des gesamten Bildersamples sind lediglich die zwei Fotografien abgebildet, die für die Sinngebungen der Gruppe ‚Pelikan‘ von großer Bedeutung gewesen sind und die in den nachfolgend wiedergegebenen Gesprächspassagen eine wesentliche Rolle spielten.
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Schönemann, S. (2019). „Da haben sie uns ja auch total einen mit in die Tasche gelogen“. Moral als Motiv der Erinnerung und visuellen Rezeption des Holocaust. In: Joller, S., Stanisavljevic, M. (eds) Moralische Kollektive. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22978-8_14
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