Zusammenfassung
Aus systemtheoretischer Perspektive wird nicht gefragt, ob normative Forderungen – wie sie beispielsweise in Vorwürfen enthalten sind – moralische Gültigkeit beanspruchen können oder nicht. Vielmehr wird untersucht, in welchen Kontexten solche normativ imprägnierten Kommunikationsformate zum Einsatz kommen und wie sie in der jeweiligen Interaktionssituation zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Der hier vorliegende Beitrag versucht diese funktionale Perspektive auf Normativität anhand des Vergleichs zwischen einer schulischen und einer familiären Interaktion zu erproben. Dabei zeigt sich, dass in diesen beiden Kontexten die Kommunikationsmedien der Macht und der Moral in spezifischer Weise zum Einsatz kommen, sodass Aussagen über die strukturelle Verfassung familiärer und schulischer Kommunikation möglich werden.
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Notes
- 1.
Ein solcher Vergleich zwischen der Familie und der Schule bietet sich spätestens seit den Überlegungen von Talcott Parsons (1968) an, der Familie, Schule und Peergroup als drei zentrale Sozialisationsinstanzen miteinander verglichen hatte. Trotz dieser frühen Anregung sind diesbezügliche Vergleichsstudien bislang rar geblieben (vgl. Helsper et al. 2009). Anders als im schulischen Kontext sind Studien zu Vorwürfen bzw. zu Disziplinproblemen in Familien meines Wissens nicht durchgeführt worden (vgl. zum Forschungsstand Ecarius et al. 2010).
- 2.
So zuletzt die Diskussion um das Buch „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb (vgl. Brumlik 2007).
- 3.
Vgl. dazu auch den ebenfalls systemtheoretisch orientierten Versuch, Formen des Pädagogischen anhand des Protokolls einer Schulstunde zu bestimmen (Hollstein et al. 2016).
- 4.
Luhmann schreibt: „Die Verfügung über ein eigenes Medium [des Erziehungssystems; OH], das mit anderen gesellschaftlichen Medien, zum Beispiel Geld oder politische Macht, nicht verwechselt werden darf, ist eine wichtige Voraussetzung für die Einrichtung einer rekursiv geschlossenen Orientierung an eigenen Formen. Das heißt natürlich nicht, daß im Erziehungssystem keine Macht entsteht oder daß Kosten keine Rolle spielen. Aber der Primat des eigenen Mediums verhindert, dass Kriterien aus anderen Medienbereichen eine dominierende Rolle spielen“ (ebd., S. 112).
- 5.
Damit sollte zugleich deutlich geworden sein, dass es keine ontologisch feststehenden Merkmale gibt, an denen man das Kommunikationsformat des Vorwurfs zweifelsfrei erkennen könnte. Die Bestimmung von Vorwürfen entlang eines Merkmalskatalogs ist auch deshalb schwierig, weil in einem Vorwurf, die angemahnten Normen meist nicht explizit ausgesprochen, sondern beim Gegenüber als implizites Wissen vorausgesetzt werden (vgl. Günthner 1999, S. 211). Gleichwohl arbeitet Günthner einige Kennzeichen heraus, die in Vorwurfskommunikationen zwar gehäuft, aber keineswegs in allen ihren Varianten vorkommen. Zu nennen wäre die negative Bewertung einer Handlung des Vorwurfsadressaten, die zudem durch die Verwendung von rhetorischen Elementen wie „du machst immer“ oder „du weißt doch“ gesteigert wird. Mit solchen rhetorischen Elementen wird angezeigt, dass der Vorwurf eine besondere Legitimität beanspruchen kann, weil der Vorwurfsadressat bereits mehrmals gegen die Norm verstoßen haben soll (vgl. ebd., S. 219). Im Gegensatz zu den sogenannten impliziten Vorwürfen werden explizite Vorwürfe häufig auch in „Warum-Fragen“ (ebd.) eingekleidet – aber auch dieses Merkmal trifft keineswegs auf sämtliche Vorwürfe zu. Umstritten ist außerdem, ob Vorwürfe immer in einem ‚vorwurfsvollen Ton‘ vorgetragen werden. Einheitliche prosodische Elemente lassen sich zwar nicht nachweisen, es ist aber auffallend, dass Vorwürfe in vielen Fällen mit einer Steigerung der emotionalen Valenz der Interaktion einhergehen (vgl. Günthner 2000, S. 139 ff.).
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So schreibt Luhmann: „Macht ist daher zu unterscheiden von dem Zwang, etwas konkret genau Bestimmtes zu tun“ (2003, S. 9).
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Damit ist natürlich nicht gesagt, dass der Einsatz einer Drohung auch den gewünschten Effekt auf die Absichten und Motive des Machtunterworfenen hat. Dieser kann sich – obwohl auf kommunikativer Ebene mit Drohungen massiv auf ihn eingewirkt wird – weiterhin widerständig zeigen. Entlang der fundamentalen Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen ist deshalb strikt zu differenzieren zwischen Einwirkungsversuchen auf der kommunikativen Ebene und der faktisch sich vollziehenden Wirkung dieser Einwirkungsversuche im psychischen System.
- 8.
Im Rahmen der konversationsanalytischen Forschungstradition sind Sekundäranalysen von bereits publizierten Interaktionsprotokollen – im Unterschied zu den derzeit diskutierten Regelungen im Kontext der Erziehungswissenschaft (vgl. DGfE 2017) – üblich und verbreitet (vgl. z. B. Messmer 2003). Eine Sekundäranalyse dieses Materials bietet sich auch deshalb an, weil Vivien Heller in ihrer Arbeit das Kommunikationsformat des „Argumentierens“ untersucht und diese Sequenz deshalb entlang einer gänzlich anderen Fragestellung analysiert.
- 9.
Diese und die folgende Sequenz wurden nach dem Transkriptionssystem (GAT 2) transkribiert (vgl. Selting 2009). Üblich ist in diesem Transkriptionssystem die Verwendung des Graphs „Courier New“.
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- 11.
Das folgende Transkript entnehme ich dem Material eines DFG-Projekts, das unter der Leitung von Frank-Olaf Radtke und Matthias Proske den Umgang mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus bzw. Multikulturalismus und Rassismus im Schulunterricht untersucht hat und das ich hinsichtlich der Analyse von Vorwürfen noch einmal neu ausgewertet habe.
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Vgl. oben Fußnote 4.
- 13.
Die hier angestellte Vermutung lässt sich auch durch Ergebnisse stützen, die in bislang vorliegenden konversationsanalytischen Vergleichsstudien zur Kommunikation in Familie und Schule herausgearbeitet wurden. So kommt Miriam Morek (2012, S. 262 ff.) in ihrer Untersuchung zu dem Kommunikationsformat der „Erklärung“ zu dem Ergebnis, dass sich Kinder in Familien zunächst als ‚wissensdurstig‘ präsentieren müssen, bevor ihnen etwas von ihren Eltern erklärt wird. In der Schule hingegen wird ihnen dieses Rollenattribut selbstverständlich zugeschrieben. Heller (2012, S. 275 ff.) kann zeigen, dass Kinder in Familien sehr viel ausführlicher an „Argumentationen“ partizipieren können, während sie in der Schule damit rechnen müssen, dass ihnen nach kurzer Zeit das Wort entzogen wird, woraufhin die betreffende Argumentation dann von mehreren Schülern kollektiv erarbeitet wird.
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Hollstein, O. (2019). „Vorwürfe“ in Familie und Schule. In: Meseth, W., Casale, R., Tervooren, A., Zirfas, J. (eds) Normativität in der Erziehungswissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21244-5_14
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