Zusammenfassung
Die Vorstellung einer Trennung und eines ausschließenden Gegensatzes von persönlichkeitsbildender Allgemeinbildung und zweckorientierter Berufsbildung, die zur (Persönlichkeits-)Bildung nichts beiträgt und zu keinen „höheren Studien oder Aufgaben“ befähigt, ist eine gedankliche Konstruktion vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Solche Konstruktionen bilden nicht Wirklichkeiten ab, sondern schaffen sie; in der Wissenschaft heißen sie „Paradigmen“ und „Theorien“. Sie dienen dazu, die Welt zu ordnen, zu deuten und zu erklären (von Foerster und von Glasersfeld 2014). Die „Unvereinbarkeitsthese“ hat nicht nur die Geschichte der Pädagogik in Mitteleuropa stark geprägt. Sie hatte auch nachhaltige Wirkungen auf die Bildungs-Abstand und Schulpolitik (etwa beim Hochschulzugang) und damit für das persönliche und soziale Schicksal von Generationen junger Menschen, die nach diesem Paradigma nicht nur ausgebildet, sondern zugleich von „höherer Bildung“ (und damit bestimmten gesellschaftlichen Chancen) ferngehalten wurden. Die These, Bildung sei nur außerhalb der Berufsausbildung möglich, diente und dient der Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheit.
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Notes
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Denn „Bildung im Sinne Humboldts meinte ja nicht einen bestimmten allgemeinbildenden Fächerkanon, sondern die Ausstattung der Menschen mit dem Wissen und Können, den Einstellungen und Verhaltensweisen, die für Orientierung, Überleben und Gestaltung unserer Welt notwendig sind.“ (E. Gruber, a.a.O. S. 5). Kritisch merkte Adorno an, dass die „neuhumanistisch gebildete Persönlichkeit“ die kulturellen Katastrophen des 20. Jhdts. nicht verhindert hätte (vgl. Adorno 1972).
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Dass die praktisch-berufliche Arbeit neben kognitiven und den jeweiligen handwerklich-technischen Fähigkeiten auch soziale und allgemein-persönliche Fähigkeiten bilden kann, sofern sie für diese Arbeit benötigt werden ist, liegt heute den Konzepten des arbeitsintegrierten Lernens zugrunde (z. B. Brater und Büchele 1991; Ulich 1978; Rohs 2002; Dehnbostel 2007).
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Es ist nicht zu übersehen, dass die Rede vom „erzieherischen Wert der Arbeit“ auch immer wieder von totalitären Systemen ge- und für überaus inhumane Zwecke missbraucht wird – bis zur makabren Parole „Arbeit macht frei“ (siehe dazu den sehr wichtigen Aufsatz von H. Kupfer 1968).
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S. zur weiteren Entwicklung den Beitrag von Arnold und Brater in diesem Band.
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Brater, M. (2018). Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in der historischen Dimension. In: Arnold, R., Lipsmeier, A., Rohs, M. (eds) Handbuch Berufsbildung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19372-0_23-1
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