Zusammenfassung
Dokumentarfilm und Erinnerung sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verbunden. Obwohl charakterisiert durch die Zeitform des Präsens, können dokumentarische Filme auf vielfältige Weise Vergangenheit evozieren. Sie tun dies durch die Aneignung historischen Bildmaterials, durch Formen des Reenactments, also die Nachstellung vergangener Gegenwarten, sowie durch vergangenheitsbezogene Zeugenberichte und Erinnerungserzählungen. So wird Dokumentarfilm zu einem Medium des kulturellen Gedächtnisses. Die Gattung kann aber auch als Instrument der Bewahrung von Erinnerungen dienen, beispielsweise als Filmdokument, das im Archiv für eine noch unbestimmte Zukunft bewahrt wird.
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Kritisch angemerkt werden muss jedoch an dieser Stelle auch der weitgehend blinde Fleck, den audiovisuelle Medien in großen Teilen der Gedächtnistheorie und insbesondere bei Aleida Assmann darstellen, die in erster Linie eine kulturkritisch-skeptische Haltung gegenüber audivisuellen und insbesondere Massenmedien wie dem Fernsehen vertritt: „Was auf der Bühne der Massenmedien auftritt, muss sofort wieder abtreten, um Neuem Platz zu machen. Die Massenmedien verbünden sich mit der Aufmerksamkeit, die flüchtig ist, nicht mit dem Gedächtnis, das nachschmeckt und wiederkäut.“ (Assmann 2007, S. 242). Diese extrem kritische Position gegenüber populären Medienangeboten wurde später teilweise revidiert. Innerhalb der deutschsprachigen Gedächtnisforschung hat insbesondere Astrid Erll Ansätze zum besseren Verständnis des Beitrages von Fotografie, Film und Fernsehen zu einer visuellen Erinnerungskultur vorgelegt (vgl. Erll 2017, S. 154–160).
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Ebbrecht-Hartmann, T. (2021). Dokumentarischer Film und Erinnerung. In: Geimer, A., Heinze, C., Winter, R. (eds) Handbuch Filmsoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10729-1_67
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