Zusammenfassung
Adornos politische Theorie kritisiert die verschleppte Vergangenheitsaufarbeitung in der jungen Bundesrepublik Deutschland. In seinen Schriften entwickelte Adorno Perspektiven für eine demokratische und antiautoritäre Wende. Die Anwendung von Adornos politischer Theorie auf den Film Vaterland, in dem die Nationalsozialisten nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg über Europa herrschen, veranschaulicht die Gegenwart des Nationalsozialismus in den gesellschaftlichen Diskursen Deutschlands. Dieser Beitrag verweist auf die politiktheoretische Bedeutung, die sowohl Adorno als auch der Film dem Handeln Einzelner zuweisen: Ohne Individualismus und Zivilcourage gibt es keine Möglichkeit zum Entrinnen aus dem Massenbetrug der Kulturindustrie und den vermachteten Strukturen von Mehrheitsgesellschaften.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Der Film Vaterland ist dem Subgenre National Socialist past des Genre crime fiction zuzuordnen (Hall 2013, S. 288). Laut Hall umfasste das Subgenre im Jahr 2013 „over 150 transnational crime novels“ (Hall 2013, S. 288). In zwölf Texten agiert ein Nazi-Detektiv, der als investigative Figur in das NS-Regime eingebettet ist und das Innenleben des Regimes durchleuchtet (Hall 2013, S. 288 f.). Die literarische Darstellung des Nazi-Detektivs als eines investigativen Rechercheurs musste – aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet – zwangsläufig zu großen Problemen und Chancen für den Autoren sowie zu moralischen Implikationen und Antinomien innerhalb des Kriminalromannarratives führen (Hall 2013, S. 289 f.). Als Gefahr ist die Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle zu nennen.
- 2.
Im Filmabspann stellt sich diese Beurteilung indes „als falsch“ heraus: Obwohl März an der beim Fluchtversuch vor der Gestapo zugezogenen Schussverletzung stirbt und auch die Journalistin Maguire nicht fliehen kann und verhaftet wird, gelangen die Informationen über den Holocaust infolge der Übergabe der Dokumente an den amerikanischen Präsidenten an die Weltöffentlichkeit. Das Naziregime erodiert in den Jahren danach von innen und bricht zusammen, weil es sukzessive alle seine Verbündeten und seine Gefolgschaft verlor. Die ideellen Faktoren spielen in der Verfilmung demnach eine viel größere Rolle als angenommen. Einen Unterschied gibt es an dieser Filmstelle zur Originalquelle des Romanes, der kein „Happy End“ vorsieht (Harris 2009, S. 383).
- 3.
„March is positioned as a „good German“ intent on revealing the criminality of the state by leaking evidence that proves the Holocaust to the outside world. This is thus a crime novel in which the crime being investigated (the murder of veteran Nazis) leads to the revelation of a much larger crime (the Holocaust), and the life stories of the murder victims, all former perpetrators who profited from the Holocaust, focus attention on the true victims of the historical moment, the millions of Jews who died at their hands“ (Hall 2013, S. 298 f.).
- 4.
Verdinglichung verstehen Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ als Unterjochung unter die im Kapitalismus fremdbestimmten Zwecke der Naturbeherrschung, die in ihrer Ursprungsidee zur Befreiung von den Zwängen der Natur durch Vernunft führen sollte, die Menschen tatsächlich aber zum Beiwerk in der Naturbearbeitung werden ließ: Statt zur Kritik kam es zur instrumentellen Herrschaft der Zweckrationalität.
Literatur
Adorno, Theodor W. 1997a. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. Gesammelte Schriften, Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997b. Beitrag zur Ideologienlehre [1954]. In Soziologische Schriften I, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 457–477. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997c. Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit [1959]. In Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2., 555–572. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997d. Meinung Wahn Gesellschaft [1963]. In Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 2, 573–594. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997e. Résumé über Kulturindustrie [1963]. In Kulturkritik und Gesellschaft I, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 1, 337–345. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997f. Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute [1964]. In Vermischte Schriften I, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 20. 1, 360–383. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997g. Auf die Frage: Was ist deutsch [1965]. In Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 2, 691–701. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997h. Erziehung nach Auschwitz [1966]. In Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 2, 674–690. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997i. Negative Dialektik [1966]. Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997j. Filmtransparente [1967]. In Kulturkritik und Gesellschaft I, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 1, 353–361. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997k. Marginalien zu Theorie und Praxis [1969]. In Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10. 2, 674–690. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. 1997l. Ästhetische Theorie [1970]. Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W., und Hanns Eisler. 1997. Kompositionen für den Film [1969]. In Kompositionen für den Film. Der getreue Korrepetitor: Lehrschriften zur musikalischen Praxis, Hrsg. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 15, 7–155. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W., und Max Horkheimer. 1997. Dialektik der Aufklärung [1944/1947]. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bajohr, Frank, und Dieter Pohl. 2006. Der Holocaust als offenes Geheimnis: Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten. München: Beck.
DER SPIEGEL 39/1992, 21.09.1992, S. 272–276: Holocaust für Horror-Freunde.
Dörner, Bernward. 2007. Die Deutschen und der Holocaust: Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte. Berlin: Propyläen.
Goldhagen, Daniel Jonah. 1996. Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler.
Hall, Katharina. 2013. The „Nazi Detective“ as provider of justice in post-1990 British and German crime fiction: Philip Kerr’s the pale criminal, Robert Harris’s Fatherland, and Richard Birkefeld and Göran Hachmeister’s Wer übrig bleibt, hat recht. Comparative Literature Studies 50 (2): 288–313.
Harris, Robert. 2009 [1992]. Fatherland. London: Arrow.
Longerich, Peter. 1989. Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941–1945. München: Piper.
Longerich, Peter. 2006. „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945. München: Siedler.
Marx, Karl. 1975. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz.
Rupp, Hans Karl. 2009. Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg.
Wachsmuth, Iris. 2008. NS-Vergangenheit in Ost und West: Tradierung und Sozialisation. Berlin: Metropol.
Weissman, Gary. 2003. Robert Harris. In Holocaust literature: An encyclopedia of writers and their work, Volume I: Agosín to Lentin, Hrsg. S. Lilian Kremer, 517–519. New York: Routledge.
Filme
Blade Runner. 1982. Regisseur: Scott, Ridley.
Hitcher, der Highway Killer. 1986. Originaltitel: The Hitcher. Regisseur: Harmon, Robert.
Vaterland, Originaltitel: Fatherland. 1994. Regisseur: Menaul, Christopher. Im Artikel als Quelle angegeben mit VT: Minuten‘Sekunden.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2016 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Kemper, U. (2016). Adorno und das Vaterland Reflexionen der Frankfurter Schule auf Gesellschaft und Kultur in Deutschland. In: Hamenstädt, U. (eds) Politische Theorie im Film. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07206-3_13
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-07206-3_13
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-07205-6
Online ISBN: 978-3-658-07206-3
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)