Zusammenfassung
Aus soziologischer Sicht lässt sich die moderne Gesellschaft nicht als eine moralisch integrierte Einheit beschreiben. Eine Soziologie, die heute eine neue Moral (Durkheim) als soziales Regulativ beschwören wollte, müsste sich wohl den Vorwurf der Naivität gefallen lassen. Gleichzeitig kennzeichnet es die moderne Gesellschaft aber, Probleme zunehmend im Modus des Ethischen zu verhandeln und immer mehr Fragen öffentlichen Interesses zu ethisieren. Zweifellos hat die Inanspruchnahme des Ethischen in den letzten Jahren alle größeren öffentlich geführten Debatten mitbestimmt – ganz gleich, ob es um ökologische, politische, ökonomische oder wissenschaftlich-technologische Fragen ging, es handelte sich gleichzeitig immer auch um ethische Fragen. Dieser unübersehbare Erfolg des Ethischen scheint dem von der Soziologie behaupteten Bedeutungsverlust der Moral auf den ersten Blick zu widersprechen. Dass nun aber zwischen der Unmöglichkeit einer moralischen Programmierung der Gesellschaft auf der einen Seite und der unübersehbaren Proliferation ethischer und ethisierbarer Problemkonstellationen auf der anderen Seite kein Widerspruch, sondern vielmehr ein Zusammenhang besteht, lässt sich deutlich machen, wenn man auf historische Verschiebungen der Moral hinweist. Diese Verschiebungen betreffen den Geltungsanspruch und die Reichweite von Moral und werden besonders deutlich, wenn man zudem noch die Entstehung eines sehr modernen Phänomens zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Blick hat – die Rede ist von der Mode.
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Notes
- 1.
Weber stellt die Frage, ob die Nachahmung von Moden „lediglich reaktiv“ sei oder eine „sinnhafte Orientierung des eigenen an dem fremden Handeln“ (1976, S. 11 f.) vorliege? Seine Antwort darauf ist eindeutig: Modische Nachahmung ist soziales Handeln, denn „wird fremdes Handeln nachgeahmt, weil es ‚Mode‘ ist, […] so liegt die Sinnbezogenheit – entweder: auf das Verhalten der Nachgeahmten, oder: Dritter, oder: beider – vor“ (ebd., S. 12).
- 2.
Siehe dazu genauer den Aufsatz „Pascal und die Soziologie“ von Alois Hahn (2002).
- 3.
Zu dieser historisch neuen Akzentuierung von Neuheit gegenüber Perfektion bei Gracián siehe ausführlicher Schulz-Buschhaus (1990).
- 4.
Siehe hierzu ausführlicher Müller und Groddeck 2013.
- 5.
Zum Unterscheid von Mode und Kleidungsmode siehe Schnierer (1995).
- 6.
Ich muss daher Bjørn Schiermer vehement widersprechen, der Luhmann jüngst eine „Achtlosigkeit der Systemtheorie gegenüber der Mode“ (2010, S. 121) vorgeworfen hat.
- 7.
- 8.
Den Zusammenhang wissenschaftlicher Wahrheit und wissenschaftlicher Moden hat Jürgen Kocka jüngst in einem lesenswerten Aufsatz über den Wandel historiographischer Darstellungen des Ersten Weltkriegs betont: „Die Historiker formen Trauben und Schwärme, und die wechseln sich im Laufe der Zeit ab. […] Vielleicht sollte man nicht erstaunt sein, dass Veränderungen in unserem Fach bis zu einem gewissen Grad dem Muster der Mode folgen“ (Kocka 2010, S. 221).
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Bei Montaigne gilt das sicherlich am deutlichsten für den Essay „Über die alten Bräuche“ (2000, S. 446 ff.), bei Gracián für dessen 120. Aphorismus des Handorakels „Sich in die Zeiten schicken“ (1986, S. 58), der maßgeblichen Einfluss auf La Bruyère ausgeübt hat (vgl. Schulz-Buschhaus 1996, S. 93). Dieser Einfluss hat sich bei La Bruyère vor allem auf das Kapitel „De la mode“ seiner Caractères niedergeschlagen, um das es im Weiteren gehen soll.
- 10.
Soweit ich das überblicken kann, war es Luhmann, der als erster die Bedeutung dieses Kapitels für die Soziologie hervorgehoben hat (vgl. 1999a, S. 79).
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Müller, J. (2015). Modische Moderne, moderne Moral. Unbestimmtheit als Signum der modernen Gesellschaft. In: Nassehi, A., Saake, I., Siri, J. (eds) Ethik – Normen – Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_7
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