Zusammenfassung
Die übliche Trennung von quantitativen und qualitativen Methoden verdeckt, dass sich Fragen nach dem Zusammenhang von Gegenstand, Theorie und Methode erst auf der Ebene der Forschungslogik behandeln lassen. Der Beitrag führt daher die in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik übliche Unterscheidung von Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik ein, die deutlich macht, dass methodische und methodologische Entscheidungen nie allein technischer Natur sind, sondern gesellschaftstheoretische Weichenstellungen implizieren. Gegen die künstliche Trennung von Theorie, Gegenstand und Methode in einheitswissenschaftlicher Tradition lässt sich mithilfe einer rekonstruktionslogischen Perspektive sichtbar machen, dass sich sachhaltige Forschung nicht in empirischen Einzelfalluntersuchungen erschöpft, sondern immer auf eine theoretisch zu begründende Gegenstandserschließung angewiesen bleibt. Der Beitrag rekonstruiert vor diesem Hintergrund zunächst die Problemgeschichte der IB als Sozialwissenschaft und diskutiert, welche Bezüge sich daraus zum Positivismusstreit in der Soziologie ergeben, um dann drei Dimensionen rekonstruktiver Forschungslogik aufzufächern. Die Anregung, vom Gegenstand aus theoretisch zu denken, liegt allen drei Dimensionen gleichermaßen zugrunde.
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Notes
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Dazu bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft: „Es ist schon ein großer und nöthiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle. Denn wenn die Frage an sich ungereimt ist und unnöthige Antworten verlangt, so hat sie außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachtheil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten und den belachenswerthen Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält (B 82).
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Dabei wird der Erkenntnisvorsprung der Naturwissenschaften in der Regel damit begründet, dass Laborexperimente in den Sozialwissenschaften kaum möglich sind – und dort, wo sie möglich wären, aus normativen Gründen nicht wünschenswert.
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Zum Begriff der Unsicherheit siehe auch Kessler 2008, Kap. 3–5.
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Van Evera (1997, S. 43) macht sich allerdings gelegentlich auch eine starker problembezogene Perspektive zu Eigen, etwa wenn er gegen verbreitete „methodology myths“ der Politikwissenschaft polemisiert: „Philosophers of social science offer many specious injunctions that can best be ignored“. Zu diesen Mythen zählt er wesentliche Implikationen des Falsifikationsprinzips ebenso wie das Verbot, Fälle entlang der abhängigen Variable auszuwählen.
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Im Gegensatz zu den Großen Debatten der Internationalen Beziehungen hat der Positivismusstreit also tatsächlich stattgefunden. Das erklärt vielleicht zum Teil die Unterschiede.
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Für Habermas ist dies im konkreten Fall der marxistische Funktionalismus, der den Historischen Materialismus enthistorisiert hatte.
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Der Untertitel macht eine Anleihe bei Habermas (1997).
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Herborth, B. (2017). Rekonstruktive Forschungslogik in den Internationalen Beziehungen. In: Sauer, F., Masala, C. (eds) Handbuch Internationale Beziehungen. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19918-4_27
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