Zusammenfassung
Auf moderne Leser wirkt es überraschend, in philosophischen Texten der Antike immer wieder die Behauptung zu finden, dass die Dauer eines Lebens nichts zum Glück eines Menschen beitrage. Denn wir halten eine bestimmte Langlebigkeit durchaus für ein Gut, nämlich eine volle natürliche Lebensspanne von achtzig oder neunzig Jahren. Dagegen meint etwa Epikur im Brief an Menoikeus, der Weise ziehe seinen Genuss nicht aus der längsten, sondern aus der lustvollsten Zeit (chronon ou ton mêkiston alla ton hêdiston karpizetai: 126); zudem sagt er, eine unbegrenzt lange Zeit bringe nicht mehr Lustgewinn als eine begrenzte (Kyriai doxai 19). Ähnlich behauptet Seneca, der Weise bedenke stets, wie beschaffen sein Leben sei, nicht wie lange es dauere (Ep. ad Luc. 70, 4–5).1 Auch in der vor-philosophischen, konventionellen Glücksauffassung der Antike ist diese Auffassung fest verankert: In der Geschichte von Kleobis und Biton bei Herodot erscheint der Tod nach der bestmöglichen tugendhaften Handlung, nicht das Weiterleben und Erreichen eines hohen Alters, geradezu als höchstes Geschenk der Göttin (Historiae I, 31). Wir hingegen würden den entgegengesetzten Akzent setzen, nämlich dass ein langes menschliches Leben einen besonderen Wert in sich trägt, weil es alle biographischen Stationen und ihre jeweiligen Erfahrungen einschließt — von der Kindheit bis ins Greisenalter. Glück besteht für uns in einem langen, vielseitigen, erfahrungsreichen Leben. Ein verfrühter Tod scheint uns dabei genauso wenig wünschenswert wie ein endlos verlängertes Leben, dessen Sinn irgendwann kollabieren würde; denn der Tod, der nach einer bestimmten Lebenszeit zu erwarten steht, wirkt sich — so unser Commonsense — geradezu strukturierend und sinngebend auf die menschliche Lebensführung aus. Langlebigkeit wie auch zeitliche Begrenztheit des Lebens bilden für uns somit echte Glückskonstituenzien.
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Horn, C. (2013). ›Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling‹. In: Mesch, W. (eds) Glück — Tugend — Zeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05343-5_2
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