Zusammenfassung
Auf den Spuren ihrer verschollenen Söhne begibt sich die Mutter jugendlicher Bilderstürmer in Kleists Erzählung ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹ (1810) in das Amtszimmer einer Klosteräbtissin. Dort erblickt sie eher zufällig die Partitur eines Musikwerks, von dem ein imaginäres und zugleich überwältigendes Klangerlebnis ausgeht: »[S]ie glaubte, bei dem bloßen Anblick ihre Sinne zu verlieren« (DKV III, 311). Daraufhin erzählt ihr die Würdenträgerin eine Legende vom wundersamen Eingriff der heiligen Cäcilie, der Patronin der katholischen Kirchenmusik, welche wenige Jahre zuvor das nach ihr benannte Kloster vor der Zerstörung durch besagte Söhne bewahrt habe.
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Anmerkungen
Zur hier nicht weitet verfolgten Frage, wie sich Kleists Erzählung zum literarischen Genre der Legende verhält, vgl. neuerdings Sabine Griese, Kleists ›Heilige Cäcilie‹ und die Tradition des legendarischen Erzählens. In: Werner Fricke (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers, Freiburg i.Br. 2014, S. 345–366.
Für Beispiele einer solchen Wider ständigkeit und Handlungsmacht der Dinge um 1800 vgl. die Untersuchungen zu Tiecks ›Prinz Zerbino‹, Heines ›Harzreise‹ und den ›Kinder-und Hausmärchen‹ der Gebrüder Grimm in Heinz Bmggemann, Mitgespielt: Vom Handeln und Sprechen der Dinge. Thema mit Variationen in Texten der Romantik. In: Christiane Holm und Günter Oesterle (Hg.), Schläft ein Lied in allen Dingen? Romantische Dingpoetik, Würzburg 2011, S. 97–119.
Für die folgenden Ausführungen zur Cäcilien-Legende siehe Reinhold Hammerstein, Caecilia [Art.]. In: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Zweite, neu bearbeitete Ausgabe, Sachteil Bd. 2: Böh-Enc, Kassel u.a. 1995, Sp. 309–317; F. Werner, Caecilia von Rom [Art.]. In: Wolfgang Braunfels (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5: Ikonographie der Heiligen Aaron bis Crecentianus von Rom, Rom u.a. 1973, Sp. 455–463;
Hippolyte Delahaye, Étude sur le légendier romain: les saints de novembre et de décembre, Brüssel 1936, S. 73–96.
Johann Gottfried Herder, Caecilia. In: Ders., Herders Sämmtliche Werke, Bd. 16, hg von Bernhard Suphan, Berlin 1887, S. 253–272, hier S. 255.
Vgl. Bernhard Greiner, »Das ganze Schrecken der Tonkunst«. ›Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Kleists erzählender Entwurf des Erhabenen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 501–520, hier S. 505.
Zu Darstellungen der heiligen Cäcilie in der bildenden Kunst siehe grundsätzlich Albert P. de Mirimonde, Sainte-Cécile. Métamorphoses d’un thème musical, Genf 1974.
John Dryden, A Song for St. Cecilia’s Day (1687). In: Ders., The Works of John Dryden, Bd. 3: Poems 1685–1692, Berkeley und Los Angeles 1969, S. 201–203; ders., Alexander’s Feast; or the Power of Musique. An Ode, in Honour of St. Cecilia’s Day (1697). In: Ders., The Works of John Dryden, Bd 7: Poems 1697–1700, Berkeley, Los Angeles und London 2000, S. 2–9.
Vgl. Hans Maier, Cäcilia unter den Deutschen. Herder, Goethe, Wackenroder, Kleist. In: KJb 1994, S. 67–83.
Johann Gottfried Herder, Die heilige Cäcilia oder wie man zu Ruhm kommt, ein Gespräch. In: Ders., Herders Sämmtliche Werke, Bd. 15, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1888, S. 160–164, hier S. 161.
Zur narrativen Logik der ver-rückenden Wiederholung von Themen, Motiven und Figuren in Kleists Erzählung vgl. überzeugend Bettine Menke, Sturm der Bilder und zauberische Zeichen. Kleists ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende)‹. In: Hendrik Birus (Hg.), Germanistik und Komparatistik, Stuttgart 1995, S. 209–245, hier S. 216f. sowie — mit Blick auf das gebrüllte ›Gloria‹ der Brüder — S. 231.
Nicht zuletzt mit Blick auf die Wendung vom frohlockenden Zeichen arbeitet Bettine Menke heraus, in welchem Ausmaß das »Schauspiel« der Brüder den katholischen Bilderkult in seiner performativen Qualität (wie er Fronleichnam besonders eindrücklich zu sehen ist) wiederholt (Menke, Sturm der Bilder und zauberische Zeichen, wie Anm. 29, S. 214). Vgl. dazu auch Dorothea E. von Mücke, Der Fluch der Heiligen Cäcilie. In: Poetica 26 (1996), S. 105–120, hier S. 108.
Vgl. E.T.A. Hoffmann, Alte und neue Kirchenmusik (1814). In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2/1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a.M. 1993, S. 503–531.
Allerdings findet Kleist, wie Christine Lubkoll sieht, bei Wackenroder/Tieck eine mögliche Vorlage, nach der sich die Vokalmusik der Messe in das romantische Paradigma einer absoluten Musik mit instrumentaler Prägung einfügen ließe: nämlich die metaphorische Identifikation von Messe und Symphonie. Vgl. Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995, S. 214. Zur Konzeption einer absoluten Musik um 1800 siehe Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978.
Zu Machtverhältnissen und deren Bedeutung für die Konstitution von Wahrheit in Kleists Erzählung vgl. grundlegend Donald P. Haase und Rachel Freudenburg, Power, Truth, and Interpretation. The Hermeneutic Act and Kleist’s ›Die heilige Cäcilie‹. In: DVjs 60 (1986), S. 88–103.
Vgl. Wolfgang Wittkowski, ›Die Heilige Cäcilie‹ und ›Der Zweikampf‹. Kleists Legenden und die romantische Ironie. In: Colloquia Germanica 6 (1972), S. 17–57, hier S. 22f.
Vgl. Barbara Thums, Die geballte Gewalt der Einbildungskraft. Zur Gegenweltlichkeit des Klosters in Kleists ›Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik‹. In: Maximilian Bergengruen und Roland Borgards (Hg.), Im Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009, S. 505–542. Vgl. auch Lubkoll, Mythos Musik (wie Anm. 38), S. 203f
Wie Georg Mein neuerdings gezeigt hat, imitiert dieses rituelle Setting mit selbst gebasteltem Kreuz den katholischen Kultus in entstellter, privatisierter Form: Die Brüder beten ein Kruzifix an, dem bezeichnenderweise das Corpus Christi fehlt, und sie besuchen nie wieder eine ›ordendiche‹ Messe mit Eucharistiefeier. So überschreiten sie in der Mimikry des Ritus zugleich die offizielle Institution der katholischen Kirche. Vgl. Georg Mein, »So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen …«. Erhabenheit und Institution in Kleists Cäcilien-Erzählung. In: Dieter Heimböckel (Hg.), Kleist. Vom Schreiben in der Moderne, Bielefeld 2013, S. 163–179, hier S. 177.
Es würde sich um eine sogenannte ›Sekundärreliquie‹ handeln. Vgl. Heinz Maritz, Reliquien [Art.]. In: Waltet Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8: Pearson bis Samuel, Freiburg u.a. 1999, Sp. 1091–1094.
Vgl. Anneliese Felber, Reliquien/Reliquienverehrung. I. Religionswissenschaftlich [Art.]. In: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 7: R-S, Tübingen 2007, Sp. 417.
Gerhard Neumann liest ›Die heilige Cäcilie‹ als literarische Inszenierung von Leerstellen der Beglaubigung, die nicht zuletzt an den komplementären — und gleichermaßen dubiosen — Schriftstücken der Mutter (Brief des Prädikanten) und der Äbtissin (Partitur) zu sehen sind. Vgl. Gerhard Neumann, Eselsgeschrei und Sphärenklang. Zeichensystem der Musik und Legitimation der Legende in Kleists Novelle ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹. In: Ders. (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall — Rechtsfall — Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994 (Rombach Litterae; 20), S. 365–389, hier S. 381f: Allerdings übergeht Neumann die narrative Kontingenz, welche diesen Dingen und ihrer Begegnung eingeschrieben ist: Die Mutter hat keinen »Lokaltermin« bei der Äbtissin, sondern gelangt eher zufällig zu ihr; auch der »Dokumententausch«, bei dem die Mutter die Partitur und die Äbtissin den Brief betrachten, ist nicht von vornherein beabsichtigt, kann folglich nur mit Einschränkungen als »Wechselprüfung der Dokumente« interpretiert werden.
Als schwarze Kunst deutet dementsprechend Gerhard Oberlin das Bild der heiligen Kunst bei Kleist, wobei er wiederum die Ambivalenzen des Textes, die einer solchen Codierung der Musik als teuflische Aktivität entgegenstehen, etwas zu geradlinig zugunsten eines gnostizistischen Bezugsfeldes in den Hintergrund rückt. Vgl. Gerhard Oberlin, ›Josefine‹ und ›Cäcilie‹. Orpheusvariationen bei Kleist. In: KJb 2010, S. 47–77.
Vgl. Gerhard Goebel, Kommentar. In: Mallarmé, Werke I (wie Anm. 74), S. 291–432, hier S. 336f. Hambly weist auf mögliche Referenzwerke Dominiquins oder Pierre Mignards hin, die Mallarmé wie den Parnassiens in Paris bekannt gewesen sein könnten, kommt aber überzeugend zu dem Ergebnis, dass Mailarmés Gedicht keine direkte Transposition einer Vorlage in einen literarischen Text beabsichtigt. Vgl. Peter Hambly, Mallarmé et la Musique. Réflexions sur ›Sainte‹, ›Feuillet d’album‹ et ›Une dentelle s’abolit‹. In: Nottingham French Studies 29 (1990), S. 21–34.
In den Kommentaren zu Mailarmés ›Sainte‹ ist diese symmetrische Struktur wiederholt betont worden. Vgl. Bertrand Marchai, Notes et variantes. In: Stéphane Mallarmé, Œuvres Complètes. Édition présentée, établie et annoté par Bertrand Marchai, Paris 1998, S. 1145–1452, hier S. 1172; Roger Pearson, Unfolding Mallarmé. The Development of a Poetic Art, Oxford 1996, S. 63.
In der Forschung ist daher gelegentlich auch von einem ›Diptychon‹ die Rede. Vgl. Peter Broome, The Sound of Silence. French Symbolist Poetry and Music. In: Australian Journal of French Studies 42 (2005), S. 192–206, hier S. 192.
Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neuzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek 221996, S. 97. Auf die kinetische Qualität der Verben verweist auch Robert Greer Cohn, Toward the Poems of Mallarmé, Berkeley und Los Angeles 1965, S. 91.
So die Deutung Yves-Alain Favres, der die Musikinstrumente als imaginierte versteht und das Fenster als »obstacle qui dérobe à la vue« interpretiert (Yves-Alain Favre, Notes. In: Stéphane Mallarmé, Œuvres. Textes établis avec chronologie, introduction, notes, choix de variantes et bibliographie par Yves-Alain Favre, Paris 1985, S. 449–582, hier S. 493).
Zur Zeitstruktur von Vergangenheit und Gegenwart siehe auch Wallace Fowlie, Mallarmé, Chicago und London 1962, S. 237.
Christiaan L. Hart Nibbrig erörtert in einer knappen Interpretation den Zusammenhang von Schweigen, Entdinglichung und Idealität in ›Sainte‹, gerade auch im Hinblick auf Mailarmés Poetologie musikalischer Dichtung. Vgl. Christiaan L. Hart Nibbrig, Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a.M. 1981, S. 143–146.
Zum Ort der Musik in Mailarmés Lyrik sowie in der poetologischen Reflexion vgl. David Hillery, Music and Poetry in France from Baudelaire to Mallarmé. An essay on poetic theory and practice, Bern, Frankfurt a.M. und Las Vegas 1980, S. 116–149;
Joseph Acquisto, French Symbolist Poetry and the Idea of Music, Aldershot/Burlington 2006, S. 47–80.
Stéphane Mallarmé, Crise de Vers/Vers-Krise. In: Ders., Werke II: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, übers. von Gerhard Goebel und Christine Le Gal, Gedingen 1993, S. 210–231, hier S. 218.
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Wachter, D. (2015). Fenster, Orgel, Partitur. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2015. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01399-6_8
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